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Augen-Post-Musik
Aufmerksamkeit ist das erste Gut heutzutage. Daran führt kein Weg vorbei. Erst danach geht es weiter.
Darum will meine Augen-Post-Musik Aufmerksamkeit wecken. Nämlich für ausgewählte Musikvideos auf meinem YouTube-Kanal.
Ich möchte Gründe anbieten, warum es sich lohnt das anzusehen.
Inhaltsverzeichnis
01 Johannisnacht Mussorgsky
02 La vallée d'Obermann Liszt
03 La mort de Cléopâtre Berlioz
04 L'après-midi d'un faune Debussy
05 Le poème de l'extase Skrjabin
06 Sinfonie der Jungfrau Tschaikowsky
07 2. Bild
08 3. Bild
09 4. Bild
10 La valse Ravel
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01 Johannisnacht
Den Anfang soll ein Werk machen, das mich völlig in Bann geschlagen hat, als ich es in jungen Jahren erstmals am Radio hörte: „Eine Nacht auf dem Kahlen Berg“ von Mussorgsky. Es war, wie wenn ich schlagartig gespürt hätte, warum der Komponist in einem Brief schreibt: „Für meine „Johannisnacht“ schlief ich nachts nicht und beendete die Arbeit, wie es sich ergab, genau am Vorabend des Johannistags. Etwas kochte in mir auf, dass ich gar nicht wusste, was mit mir los war.“
Und so versuchte ich Jahre später zu seiner Musik eine „Bildspur“ zu schaffen, die sichtbar machen will, worum es da geht. Nämlich um die volksmythologischen Geschichten vom Hexensabbat in der Johannisnacht. Was Mussorgsky aus Russland kannte und in den Erzählungen von Gogol nachlesen konnte, das war allgemein und auch bis nach Spanien verbreitet. Es hat Goya zu manchen seiner berühmten Stiche inspiriert. Ganz nach seinem Motto "Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer."
Auf den Schultern dieser zwei Giganten des Ohrs und des Auges meinte ich einen Versuch wagen zu können. Er hat mich über Jahre beschäftigt: 1994-2011. Zuerst als programmierte Diaschau und schliesslich als Video mit viel weiter entwickelten Möglichkeiten. Goyas Stiche können, was ich nicht könnte: der genialen Musik von Mussorgsky visuell die Waage halten.
Mussorgsky Eine Nacht auf dem Kahlen Berg
YouTube https://youtu.be/JIvW3o65UEE
PS für Interessierte
Ich verwende die Fassung des Dirigenten Leopold Stokowski. Sie ist etwas gestraffter als die meistgespielte von Rimsky-Korsakow. (Als hätte Stokowski die mediale Ungeduld von heute bereits geahnt…)
02 La vallée d'Obermann
„La Vallée d‘Obermann“ von Liszt war Teil des Programms BILDERKLAVIER, bei dem ich 1996 Werner Bärtschi am Klavier mit drei Diaprojektoren begleitete, die am Laptop gesteuert wurden. Ein klassisches Live-Konzert mit Bildprojektion, das galt damals als Wagnis - das Werner Bärtchi noch so gerne einging. Leider gibt es davon keine Tonaufnahme.
„La Vallée d‘Obermann“ gehört zu den Kompositionen, die Liszt in seinen Schweizer Jahren konzipiert hat. 1833 lernt der junge Franz Liszt die Comtesse d'Agoult kennen. Die Gräfin ist verheiratet, doch die beiden werden schnell ein Liebespaar. Als die Gräfin schwanger wird, verlässt das Paar 1835 Paris, um dem Skandal aus dem Weg zu gehen. In der Schweiz war das damals noch möglich. Heute wäre es ein gefundenes Fressen für die Boulevard-Presse… Zwei Jahre lang bereist die junge Familie die Schweiz, und Liszt hält die Orte, die sie besonders beeindruckt haben, auch musikalisch fest: den Walensee, die Tellskapelle, Genf. Ein Obermanntal würde man allerdings vergebens suchen. Es existiert nur in einer literarischen Schweiz: als Schauplatz eines damals bekannten Romans.
Das hat mir die Freiheit gegeben, mich bei den Schweizer Aquarellen von William Turner zu bedienen, ohne der Romanhandlung zu folgen. Als der Pianist Konstantin Scherbakow 2011 fünf Stücke aus den der Schweiz gewidmeten „Années de Pèlerinage“ an der ETH spielte, konnte ich das für 3sat aufzeichnen. Neben „La Vallée d‘Obermann“ und zwei Stücken ohne Bild-Inszenierung stand „La chapelle de Wilhelm Tell“ und „Au lac de Wallenstadt“ auf dem Programm. Dazu zeigte ich diese beiden Orte. Nach einer Aufführung in Weimar schrieb ein Kritiker etwas von Schweiz-Werbung ganz im Sinne des Tourismusvereins. Das waren die Aquarelle von Turner zu seiner Zeit auch.
Damals wurde die Schweiz mit ihren hindernis-gespickten Bergen, abgelegenen Tälern und wasserreichen Landschaften als Erlebnisraum erst entdeckt. William Turner hatte daran wesentlichen Anteil. Der englische Maler bereiste die Schweiz ab 1802 mehrfach und hielt sie in einer Vielzahl von Aquarellen fest. Zum Stück „La Vallée d’Obermann“ treffen darum Schweizer Aquarelle von Turner mit Liszts Musik zusammen. Zwar geht es im Stück nicht in erster Linie um Landschaftseindrücke, sondern um das Gefühlsleben einer literarischen Gestalt. Gerade das aber lässt die Schweizer Bilder von Turner nicht zur blossen Verdoppelung des schon musikalisch „Gemalten“ werden. Vielmehr erscheinen sie als Erlebnisraum, worin sich das musikalisch geschilderte Innenleben des Helden abspielt. Und wenn dabei die Landschaft zur Spiegelung seiner Stimmungen wird, so entspricht das ganz der romantischen Weltsicht.
Ist das jetzt auch Schweiz-Werbung im Auftrag des Tourismus-Vereins? Zwar gibt es die Orte, die Turner unvergleichlich gemalt hat, aber sein Aquarellpinsel hat sie neu geschaffen und unabhängig von der Realität gemacht. Er liess sich nicht völlig von der Wirklichkeit diktieren. Sein Pinsel war ein Einfallspinsel – nicht zu verwechseln mit «Einfaltspinsel». William Turner arbeitete die vor Ort entstandenen Aquarell-Studien im Atelier in England fertig aus. Sein Ziel war es, sie möglichst verkäuflich zu machen. Das waren sie. Sie weckten die Nachfrage nach mehr davon - aber auch die Nachfrage nach dem Original. Dieses war natürlich nur reisend zu haben. Und einen Tourismus-Verein gab es in der Schweiz nicht. Die vielen Besucher aus England machten mit der Zeit klar, dass es einen solchen brauchte. 1917 wurde die Nationale Vereinigung zur Förderung des Reiseverkehrs gegründet, rund 100 Jahre nach Turners Erkundungen der Schweiz. Angebot und Nachfrage spielten übers Kreuz: Die Nachfrage schuf das Angebot. Heute bemüht sich das Angebot, die Nachfrage zu steigern oder zumindest wach zu halten. Einen freien Mitarbeiter wie William Turner findet Schweiz-Tourismus dafür heute allerdings nirgends.
Liszt 5 Stücke aus «Années de Pèlerinage»: Suisse
YouTube https://youtu.be/Rp2-mIA84Sg
03 La mort de Clèopâtre
Niemand merkte es, als Berlioz sein erstes Meisterwerk komponierte!
Was die Schlussszene einer (nicht geschriebenen) Oper sein könnte, hat mich zuerst zu einer Radiosendung gedrängt - und dann auch eine Bild-Inszenierung verlangt. Mit «La mort de Cléopâtre» schrieb Berlioz 1829 unter den prüfungsartigen Bedingungen des Kompositionswettbewerbs um den grossen französischen Staatspreis Prix de Rome sein erstes Meisterwerk - und bekam keinen Preis. Dreimal hatte er zuvor erfolglos an diesem Wettbewerb teilgenommen und wurde also nun bereits zum vierten Mal wieder allein in ein Zimmer mit Klavier eingeschlossen. In 22 Tagen musste die Komposition fertig sein. Alles was in dieser Zeit von draussen kam: Papiere, Briefe, Bücher, Wäsche wurde sorgfältig kontrolliert, damit niemand den Kandidaten helfen oder raten konnte. Immerhin war es nur eine Halbgefangenschaft. Jeden Abend konnten die Kandidaten Besuch empfangen und sogar ihre Freunde zu angeregten Gelagen einladen, wo zwischen Champagner und Bordeaux dann doch allerhand ausgetauscht werden konnte.
Beim vierten Mal versprach sich Berlioz nun gute Chancen und war entschlossen, sein bestes Werk zu schreiben. Und das tat er.
„La mort de Cléopâtre“ sagt schon alles über die Situation: Bevor Kleopatra sich die Kobra an die Brust setzt, um aus ihrem ausweglosen Leben zu entfliehen, lässt sie es noch ein letztes Mal Revue passieren.
Berlioz macht daraus eine Oper in der Nussschale, eine überwältigende Szene für eine dramatische Sängerin/Darstellerin. In letzter Zeit wurde das erkannt, und das Stück wird öfter aufgeführt. Als ich darüber 1979 eine Radiosendung machte, war das Werk noch ein seltener Gast im Konzertbetrieb.
Nur die Jury des Rompreises kam es 1829 zu hören – und das erst noch nur mit Klavierbegleitung. Dabei war Berlioz – zu seinem Glück und Unglück – nicht Pianist und komponierte immer direkt die Orchesterpartitur, weil die klangliche Vorstellung für ihn keine blosse Einkleidung war, sondern untrennbar von der musikalischen Idee. Und nun rächte es sich, dass er sich seinem eigenen Gefühl überlassen und eine hervorragende Kantate schreiben wollte, statt sich um die Erwartungen der Jury zu kümmern. Diese vergab 1829 überhaupt keinen ersten Preis. Berlioz bekam sein erstes Meisterwerk im ganzen Leben nie zu hören.
Später erinnerte er sich nur noch an die Meditation, in der Kleopatra die grossen Pharaonen der ägyptischen Geschichte anruft. Das ist sicher einer der vielen Höhepunkte dieser Komposition. Berlioz machte daraus den Geisterchor in seinem «Lélio», einem lyrischen Monodrama, das als Fortsetzung der «Symphonie fantastique» gedacht war. (Und im totalen Gegensatz dazu kaum je aufgeführt wird.)
Berlioz "La mort de Clèopâtre" habe ich dafür gleich doppelt auf YouTube:
- gesungen von Jessye Norman: https://youtu.be/nPJ5Qk-kMoo
- gesungen von Véronique Gens: https://youtu.be/8L7--Ob3nYk
04 L'après-midi d'un faune
Ganz genau heisst das Stück: "Prélude à l’après-midi d’un faune". Denn Debussys Musik entstand als Vorspiel für eine geplante (und nicht erfolgte) Rezitation des Gedichts „Nachtmittag eines Fauns“. Mallarmés Gedicht spielt vor dem Hintergrund des Mythos von der Begegnung zwischen Pan und der schönen Waldnymphe Syrinx. Syrinx war eine glühende Verehrerin von Diana. Berühmt für ihre vogelgleiche Stimme wurde sie häufig von Satyrn und Waldgeistern verfolgt, doch immer gelang es ihr, sie auszutricksen. Eines Tages traf Pan sie im Wald und machte ihr Komplimente wegen ihrer Ähnlichkeit mit der Göttin. Syrinx lief sofort weg, aber Pan verfolgte sie, bis sie ein Flussufer erreichten, wo er sie packte. Syrinx rief ihre Schwestern, die Fluss-Nymphen zu Hilfe, und diese verwandelten sie in ein Schilfrohr. Pan schloss seine Arme um die vermeintliche Nymphe – und hielt nur Schilf umfangen. Als er seufzte aus Enttäuschung darüber, sie verloren zu haben, tönte sein Atem durch das Schilf und wurde zu einer klagenden Melodie. Von der Süsse dieser Musik entzückt, sagte er: Wenigstens du sollst mein sein, und machte aus einigen Schilfrohren ein Instrument, das er zu Ehren der Nymphe Syrinx nannte.
Dieser Mythos ist eine allegorische Beschreibung, wie Musik und vielleicht jede Kunst geboren ist aus der glühenden Verfolgung von Schönheit. Bei Mallarmé geht die Geschichte zusammengefasst so:
Ein schlafender Faun erwacht am Nachmittag und versucht die Ereignisse des Morgens zu erinnern, als er zwei Nymphen entführt hat – oder vielleicht auch nicht. Sein erster Impuls ist, die Nymphen weiter zu verfolgen, um sie für immer in seinem Geist festzuhalten. Dazu ruft er sich die Einzelheiten der Begegnung mit ihnen in Erinnerung. Er schnitt Schilf an einem Seeufer für seine Panflöte, als er eine Gruppe von badenden Nymphen erspähte. Durch das Schilf beobachtete er sie, doch als er seine Flöte stimmte, schreckte der Klang die Nymphen auf und sie flohen. Er verfolgte sie in den Wald und entdeckte dort zwei andere schlafende Nymphen. Er hob sie auf und trug sie zu einem sonnenbeschienenen Platz, wo er ... der Faun ist nicht sicher, was dann passiert ist, nur dass die Nymphen ihm entwischt sind. Zuerst hat er Gewissensbisse, was er getan haben könnte, aber schliesslich setzt sich seine tiefere Natur durch. „Schade!“, sagt er, „andere werden mich zum Glück führen mit ihren Zöpfen, die an meine Hörner geknüpft sind.“ Aber als der Abend näher kommt, kehrt seine fiebernde Phantasie zurück zur nagenden Frage seiner Schuld. Für einen Augenblick stellt er sich vor, Venus selbst in den Armen zu halten, bevor er sich klar wird, dass ein solches Verbrechen sichere Strafe bedeutet. Schliesslich streckt er sich aus, die Weinflasche neben sich, und schläft wieder ein. Die Nymphen verabschiedend kehrt er zurück in den Traum, aus dem er zu Beginn des Gedichts erwachte.
Kein Wunder hat diese Handlung das Interesse der Choreographen geweckt. Und kein Geringerer als Vaclav Nijinskij hat dazu 1912 seine erste eigene Choregraphie geschaffen. Gerade durch ein abgehacktes Gebärdenspiel, das so unnatürlich wie möglich wirkte, drückte er die Rückkehr zu den Urinstinkten aus. "Sein Kopf wendet sich mit einer Begehrlichkeit, die ebenso linkisch wie gewollt ist und die man für echt hält." Das sagte Auguste Rodin über Nijinskij als Tänzer des Fauns. (Seine Choreographie wurde übrigens mit Rudolf Nurejew in der Hauptrolle 1981 rekonstruiert und ist auf YouTube zu finden: https://youtu.be/GNiJlgH65zM?si=i4jWHjGXFMDddojK )
Nijinskij hat mit seiner Darstellung dessen, was die Musik diskret verschweigt, einen erfolgreichen Skandal provoziert:
"Ein pumper Faun mit vulgären Bewegungen von animalischer Erotik und schwerfälligen, geschmacklosen Gesten, allzu eindeutige Pantomime des missglückten Tierkörpers, animalische Gegenständlichkeit" - so lauteten die Hauptargumente des Direktors des FIGARO, als er 1912 eine Kritik der Uraufführung unterdrückte. Er erreichte damit, dass der Faun ein absolutes gesellschaftliches Muss wurde.
Ein Journalist schreibt: "Wenn der Vorhang sich öffnet, durchläuft ein Schauer der Neugier den überfüllten Saal. Der Faun mit seinem braun-weiss gefleckten Körper spielt auf der Flöte. (...) Die Operngläser sind gezückt und auf die richtige Entfernung eingestellt. Am liebsten sollten die Anstössigkeiten sofort beginnen. (...) Ach! Es scheint, als hätte man die Sache zu sehr vereinfacht. Der Tänzer breitet den Schleier, den er der Nymphe geraubt hat, zwischen seinen Armen aus und betrachtet ihn. (...) Der Vorhang fällt. Der Beifall hebt an. (...) Selten ist es uns vergönnt, einem derartigen Triumph beizuwohnen."
Das Motiv von Mallarmés Gedicht ist sowohl in der Literatur wie in der bildenden Kunst weit verbreitet. Mallarmé verschlüsselt die Sache in seiner komplex-bildhaften Sprache, und gibt ihr gleichzeitig einen weiten weltanschaulich-philosophischen Horizont. Diesen aber kann weder eine Choreographie noch eine optische Inszenierung zureichend umsetzen. Wie die Musik ja auch nicht das Gedicht in sich aufgehen lassen und ersetzen will, sondern ihm einen musikalischen Rahmen gibt (und eben nicht nur ein blosses Vorspiel ist), so will meine optische Paraphrase nicht das Gedicht umsetzen, sondern es umkreisend erweitern.
Eine Art Zeitreise soll den archetypischen Charakter der Situation herausstellen. Darstellungen von „Faun und Nymphe(n)“ aus der bildenden Kunst bilden den Anfang. Heute indes trifft man kaum mehr Faune in Wald und Feld. Die meisten haben sich in die Städte begeben und sehen aus wie du (falls männlich) und ich. Und auch die Nymphen sind ihnen gefolgt. Sie spiegeln sich lächelnd, kokett, verführerisch und lasziv auf allen Plakatwänden und auf den unzähligen Seiten unzähliger Zeitschriften. Ausserdem hat, was heute ein rechter Faun ist, natürlich Internet-Anschluss und findet seine Nymphen weltweit virtuell frei Haus...und das gleich in einer solchen Menge, dass er schliesslich am liebsten die Augen schliessen würde und zurückfinden aus dem weltweiten Netz in den schmeichelnden Tagtraum seines Urahnen mit Hörnern und Bocksfüssen, der allein mit seiner Flöte...
Debussy Prélude à l'après-midi d'un faune
YouTube https://youtu.be/4Upc8LrKeBs
PS 1
Debussy schrieb an einen Kritiker:
Le Prélude à L’Après-midi d’un Faune, c’est peut-être ce qui est resté de rêve au fond de la flûte du faune? Plus précisément c’est l’impression générale du poème, car à la suivre de plus près, la musique s’essoufflerait ainsi qu’un cheval de fiacre concourant pour le Grand Prix avec un pur-sang. … Maintenant, cela suit tout de même le mouvement ascendant du poème, et c’est le décor merveilleusement décrit au texte avec en plus l’humanité qu’apportent trente-deux violonistes levés de trop bonne heure. La fin, c’est le dernier vers prolongé: "Couple, adieu, je vais voir ce que tu devins."
PS 2
Meine Video-Inszenierung wurde in einer Bearbeitung der Musik für kleines Ensemble (das geht!) an der EXPO 02 vom Nouvelle Ensemble contemporain, Leitung Pierre-Alain Monot, 2002 in Murten uraufgeführt.
05 Le poème de l'extase
Musik unter Pornographie-Verdacht - so geschah es dem Orchester-Gedicht "Le poème de l'extase", das Alexander Skrjabin 1908 komponierte. Zuerst schrieb er dafür ein Gedicht (aus Worten) mit dem gleichen Titel, in dem er das geistige Programm der Musik formulierte. Es stellt dar, wie der schöpferische Mensch gegen feindliche Mächte kämpfen muss und schliesslich in einem kosmischen Höhenflug den Sieg erringt. (siehe PS)
In seiner Komposition unternahm es Skrjabin sodann, den Prozess der schöpferischen Ekstase musikalisch zu beschwören. Meiner Video-Inszenierung liegt das von ihm selbst formulierte Programm zugrunde. Sie wurde am Menuhin Festival Gstaad 2008 vom Russischen Nationalorchester unter der Leitung von Mikhail Pletnev uraufgeführt. Der Versuch den ekstatischen Höhenflug der Musik visuell zu inszenieren hat beim Publikum Begeisterung, festival-intern aber auch Empörung ausgelöst.
Von Pornografie war die Rede. Stein des Anstosses: Zeichnungen von Gustav Klimt, die zeitgleich zur Komposition von Skrjabin entstanden sind. Offenbar potenziert die Musik die Wirkung von Klimts Kunst nachhaltig...
In seinem Beethoven-Fries hat Klimt 1901 eine visuelle Interpretation von Beethovens 9. Sinfonie gemalt. Sie erstreckt sich im oberen Teil von drei U-förmig angeordneten Wänden über 34 Meter und ist 2 Meter hoch. Seit 1986 ist im Untergeschoss der Wiener Secession zu bestaunen. Klimt hat sich für seine Malerei an der Ausdeutung von Beethovens Musik durch Richard Wagner orientiert. Doch die Bilder wollen stilistisch zu Beethoven nicht recht passen. Allerdings zeigen sie getreu nach Richard Wagners "Beethoven"-Verständnis einen Helden, der sich gegen feindliche Mächte behaupten muss - und zeigen darin eine deutliche Entsprechung zu Skrjabins Gedicht. Auch die Ekstase findet in Klimts Bildwelt, speziell in seinen Zeichnungen, manches Gegenstück. Gegenüber einem Freund hat Skrjabin bestätigt, dass die schöpferische Erregung alle Zeichen des Sexuellen habe. In seinem Tagebuch von 1904/05 schreibt er:
Schöpferischer Drang bringt uns ins Gebiet der Ekstase – ausserhalb von Raum und Zeit. (...) Ekstase ist höchste Steigerung der Tätigkeit, Ekstase ist ein Gipfel. (...) In der Form des Denkens ist Ekstase – höchste Synthese. In der Form des Fühlens ist Ekstase – höchste Wonne. In der Form des Raumes ist Ekstase – höchste Entfaltung und Vernichtung.
Meine Video-Projektion auf Grossleinwand über dem Orchester fügt der Musik ein zusätzliches visuelles „Instrument“ hinzu. Und das ist jedenfalls ganz im Sinn des Komponisten, der schon 1910 sein Orchester um ein Farbenklavier erweitert sehen wollte.
2008 zeigte 3sat die Aufzeichnung der Aufführung vom Menuhin Festival Gstaad - vorsichtshalber erst um 23.15 Uhr.
Skrjabin Le poème de l'extase
YouTube https://youtu.be/lkKwzOE6lyM
PS
Le poème de l’extase (Auszüge aus dem Gedicht)
Der Geist Vom Lebensdurst beflügelt, Schwingt sich auf zum kühnen Flug (…)
Formt sich eine Zauberwelt (…)
Ergibt sich der Wonne der Liebe. Inmitten seiner Traumgestalten Verweilet er in Sehnsucht.
Im Höh’nflug der Begeisterung Erweckt er sie zum Blühen. (…)
Aber plötzlich – Drohende Rhythmen Düsterer Ahnungen Dringen rauh In die Zauberwelt ein.
Doch einen Moment nur. Durch leichte Erkraftung Des göttlichen Willens
Kann er verscheuchen Die Schreckgestalten. (…)
Inmitten seiner blühenden Geschöpfe Verweilet er nun küssend, Mit einer Fülle von Reizen Ruft er sie zur Ekstase. (…)
Aber von neuem (…) Wogt schrecklich auf (…) Furchtbarer Wesen Wirres Getose; Alles droht es Zu verschlingen. (…)
Der leidende Geist, Durch Zweifel Kummer schaffende Geist, Ergibt sich der Qual der Liebe. (…)
Aber plötzlich – (…) Von Strahlen der Hoffnung Aufs neue erleuchtet (…) Entbrennet er. (…)
Erfüllt von Zorn Und Empörung (…)
Vergessend das ersehnte Ziel, Stürzet der Geist sich in trunkene Kämpfe. (…)
Er will den Sieg, (…) Er triumphiert! (…) Doch was verdüstert Diesen Freudenmoment? (…)
Dass sein Ziel ist erreicht. (…)
Und einen Moment Fühlt er Langweile, Verzagen und Öede.
Aber vom Durst nach Leben Aufs neue beflügelt Schwingt er sich auf (…)
Und durch nichts beunruhigt Kann er sich ewig ergeben Seinen geliebten Träumen. (…)
Doch das zersetzende Gift Der Einförmigkeit Der Wurm der Uebersättigung Verzehrt das Gefühl. (…)
Rückgekehrt aus freiem Willen In die Welt erregter Träume Begreift er wunderbar den Sinn
Des Geheimnisses des dunklen Bösen. (…)
Wiederum Kämpfe, Einsatz des Willens, Der Wunsch, zu besiegen. Von neuem Sieg, wiederum Trunkenheit (…)
Und Uebersättigung .In diesem ewigen Rhythmus Schlage, Lebenspuls, stärker! (…)
Meine Blüte, meine Ekstase! Jede Spanne eures Daseins
Schaffe ich durch die Verneinung Früher durchlebter Formen.
06 Eigentlich eine "Sinfonie der Jungfrau"
Kurz gesagt:
Die „Manfred-Sinfonie“ von Tschaikowski steht neben seinen sechs nummerierten Sinfonien und ist eigentlich eine Sinfonische Dichtung in Sinfonie-Form. Sie folgt nämlich sehr genau einer aussermusikalischen Vorlage von Lord Byron. Weil sie also eine Geschichte erzählt, bietet sie sich an, diese auch sichtbar zu machen.
In den nächsten Zusendungen von Augen-Post-Musik werde ich den vier Sätzen der Sinfonie, die ausdrücklich "Bilder" heissen, je kurze Moderationen vorausschicken. Sie fassen zusammen, was die Sinfonie der Jungfrau erzählt.
Das 1. Bild beginnt in einem mittelalterlich-düsteren Alpenschloss. Hier frönt Manfred seinen magischen Künsten, gepeinigt von einer geheimnisvollen Schuld. Um Mitternacht hält er Zwiesprache mit den Naturgeistern, die er sich dienstbar gemacht hat. Doch sie können seine Sehnsucht nach Vergebung und Seelenfrieden, nach Versöhnung mit sich selbst nicht erfüllen.
Auf dem Gipfel der Jungfrau dann vergleicht Manfred die majestätische, leuchtende Gebirgswelt mit der düsteren, öden Landschaft seiner Seele. Zwar ist er tief in die Geheimnisse der Natur eingedrungen, aber ihre Schönheiten lassen ihn kalt. Mit sich und der Welt zerfallen will er sich in die Tiefe stürzen – da hält ihn ein Gemsjäger im letzten Augenblick zurück und lädt ihn in seine Hütte ein.
VIDEO 1. Bild
YouTube https://youtu.be/8w3M9Ni3gnA
Wer es genauer wissen will:
Tschaikowski schrieb seine „Manfred-Sinfonie“ nach der 4. und vor der 5. Sinfonie im Sommer 1885. Bei einem Aufenthalt in Davos hatte er das damals berühmte Werk von Lord Byron gelesen. Heute ist Manfred einfach ein Vorname. Damals hingegen war es ein Name wie zum Beispiel «Faust». Der Vergleich mit Faust ist aber nicht nur eine Spielerei. Denn Manfred ist eine Faust verwandte Gestalt: ein Naturforscher und Wahrheitssucher mit magischen Kräften, den Geheimnissen von Natur und Schöpfung auf der Spur. Und er ist belastet von Schwermut und umgetrieben von Schuld. Worum es dabei geht, wird erst allmählich langsam klarer: offenbar um den Inzest mit seiner Schwester Astarte.
Manfred ist unschwer als Doppelgänger von Byron selbst (1788-1824) erkennbar. Er hatte eine sehr enge Beziehung zu seiner Halbschwester Augusta Leigh, die als inzestuös verdächtigt wurde. Für Augusta schrieb er ein Tagebuch, als er im September 1816 vom Genfersee kommend das Berner Oberland in ausgedehnten Wanderungen erkundete. Und hier siedelt Byron im folgenden Jahr 1817 dann auch die Handlung seines "Manfred" an: Auf dem Gipfel der Jungfrau, am Wasserfall in einem tiefen Alpental, bei einer Hütte in den Berner Alpen – so lauten ein paar der Szenenangaben. Orte, die auch Tschaikowsky von seinen Aufenthalten in Interlaken (1870) und Clarens (1877/78) kannte. Ganz zu Recht kann man also von einer „Sinfonie der Jungfrau“ sprechen.
Schon Byron selbst wusste, dass sein „Gedicht in Dialogform“ für die Bühne ungeeignet ist. Er sprach von Gedankentheater. Gerade das aber machte seinen "Manfred" geeignet für die Umsetzung in Musik, wie vor Tschaikowsky ja auch schon Schumann bewiesen hat. Und es macht es sinnvoll, die Sinfonie in vier „Bildern“ (wie Tschaikowsky die Sätze ausdrücklich nannte) als „szenische Komposition“ für Video und Orchester aufzuführen.
Die Musik wird dabei als Fantasieraum optisch inszeniert. Zu sehen sind einerseits die realen Schauplätze im Berner Oberland, die den Dichter inspiriert haben. Sie erhalten durch die Musik etwas vom Geheimnis zurückgespiegelt, das Byrons Fantasie beflügelt hat. Dazu treten Bildzitate von John Martin, Heinrich Füssli, Francisco Goya, Dante Gabriel Rossetti, Luca Giordano und anderen, die mit den Mitteln heutiger Video-Montage animiert werden. Die Verschmelzung realer Landschafts-Szenen mit bildender Kunst erlaubt die suggestive Gestaltung einer Fantasiewelt jenseits „platter“ Abbildung. Musik und Video verbinden sich zu einem Gesamt-Erlebnis, das eigene Wege geht.
Was hier und jetzt wie ein Film aussieht, stellt das übliche Verhältnis von Bild und Musik eigentlich auf den Kopf. Die Musik ist nicht Dienerin des Bilds wie im Film. Vielmehr will das Bild der Musik dienen und erzählen, was Tschaikowsky getreu nach Byrons Vorlage in Musik gesetzt hat. In einer Live-Aufführung setzt das voraus, dass die Musik frei bleibt. Die Bild-Projektionen sind darum im Computer nur vorbereitet. Im Moment der Aufführung werden sie jedes Mal neu generiert. Dirigent und Orchester müssen sich also nicht nach dem Bild richten, sondern spielen ganz frei. Die Video-Projektion wird als ein zusätzliches „optisches Instrument“ mitgespielt. Die Uraufführung fand am Festival Interlaken Classics 2010 statt, umgeben von der Landschaft, in der die Geschichte spielt. Vladimir Ashkenazy, der das EU Youth Symphony Orchestra leitete, war zuerst skeptisch - aber nur bis er das Video gesehen hatte. Das Konzert wurde für 3sat aufgezeichnet und ausgestrahlt. Dieses Dokument ist allerdings gesperrt. Wahrscheinlich hat Ashkenazy die weitere Verwendung verboten. Stattdessen habe ich das Video auf eine Aufnahme mit dem Royal Liverpool Philharmonic Orchestra unter der Leitung von Vasily Petrenko adaptiert, erschienen bei Naxos.
07 "Sinfonie der Jungfrau" 2. Bild
Das 2. Bild spielt an einem Wasserfall. Hier begegnet Manfred der Alpenfee. Er beschreibt sich als Einzelgänger von Jugend an, von der Gesellschaft isoliert und seinen Mitmenschen entfremdet. Die Alpenfee bietet ihm ihre Dienste an, wenn Manfred sich ihr unterordnet. Aber er ist stolz und will nicht einem Geist gehorchen, den er selbst beschworen hat.
VIDEO 2. Bild
YouTube https://youtu.be/l4QhhR5mEOI
08 "Sinfonie der Jungfrau" 3. Bild
Im 3. Bild lernt Manfred beim Gemsjäger in den Berner Alpen das arme, aber freie Leben der Bergler kennen. Doch schliesslich behauptet Manfred sein eigenes Recht gegenüber dem einfachen Leben: "Ich kann, wenn elend auch, ich kann doch tragen, was andre nicht im Traum ertrügen", hält er dem Gemsjäger entgegen.
VIDEO 3. Bild
YouTube https://youtu.be/G1CWHOx6Sig
09 "Sinfonie der Jungfrau" 4. Bild
Das abschliessende 4. Bild führt in die unterirdischen Paläste von Ariman, dem höchsten Geisterfürsten. Dort erscheint Manfred mitten in einer teuflischen Orgie. Es gelingt ihm schliesslich, Ariman zu bewegen, den Schatten von Astarte erscheinen zu lassen – jener Frau, wegen der Manfred schon auf Erden Höllenqualen leidet, weil er fürchtet, sie durch seine sündhafte Liebe umgebracht zu haben. Sie verkündet ihm seinen nahen Tod, weicht aber seiner Bitte um Vergebung aus. Als die Dämonen dem sterbenden Manfred die Seele abverlangen, erteilt er ihnen eine klare Absage: "Ich sterbe so, wie ich gelebt habe – allein."
VIDEO 4. Bild
YouTube https://youtu.be/newdnyzRnX0
Wer Genaueres wissen will zur Stellung dieser Sinfonie im Schaffen von Tschaikowski:
Wie gesagt ist die Manfred-Sinfonie zwischen der vierten und der fünften entstanden. Sie wird aber viel weniger aufgeführt als die Nummern vier, fünf und sechs. Tschaikowski selbst schätzte seine Manfred-Sinfonie zunächst hoch ein. Dann verfiel er ins Gegenteil und wollte nur den ersten Satz als symphonische Dichtung behalten, die anderen drei Sätze aber vernichten. Glücklicherweise schritt er nie zur Tat. Seine schwankende Einschätzung ist keine Seltenheit.
Auch die 5. Sinfonie empfand er nach der 4. als Rückschritt, ja als Versagen. Ich kenne niemanden, der das versteht. Bei der Manfred-Sinfonie könnte sowohl für die zuerst positive wie die nachher negative Einschätzung der gleiche Grund verantwortlich sein. Das Thema des Inzests dürfte Tschaikowski einerseits angezogen haben, denn es hat eine Parallele zu seiner Homosexualität. Sie war genauso verfemt, tabu, und musste versteckt werden. Und gerade die Zwänge dieses Versteckspiels, das sein Leben belastete, könnten Tschaikowski dann den Manfred verleidet haben. Das bleibt natürlich Spekulation. Und es gibt auch noch eine andere Ebene, die erklären könnte, warum Tschaikowsky seinen Manfred so instabil eingeschätzt hat – und warum die Sinfonie viel weniger aufgeführt wird. Es fällt nämlich auf, dass sogenannte „symphonische Dichtungen“, also die von Franz Liszt so benannte symphonisch erzählende Musik, fast immer einsätzig ist. Weil sie dem Fortgang einer Geschichte folgt, kann sie eine ganz eigene Form annehmen. Aber diese Form muss auch „rein musikalisch“ überzeugen, die zu erzählende Geschichte garantiert noch lange keine gute Musik. Dieses Problem spitzt sich bei einer Sinfonie in vier Sätzen noch zu.
Wenn Tschaikowskis "Manfred"-Sinfonie viel weniger aufgeführt wird als ihre allgegenwärtigen Schwestern, könnte es sein, dass sie erst zu ihrer vollen Wirkung kommt, wenn man die Geschichte, die sie erzählt, nicht nur kennt, sondern im Verlauf der Musik auch wirklich verfolgen kann? Ich war jedenfalls überrascht, wie zwanglos und detailgenau passend sich Tschaikowskys Musik und Byrons Drama verknüpfen liessen.
PS
Zum Schluss noch eine Fussnote, die vielleicht interessiert:
Den unterirdischen Palast von Ariman habe ich im Landesplattenberg bei Elm gefunden. Das ist ein ehemaliges Bergwerk, wo Schieferplatten abgebaut wurden. Dabei ist im Laufe der Zeit eine riesige Höhle entstanden, die ihresgleichen sucht. Weil der Abbau den schiefliegenden Schichten folgen musste, hat die Natur zu einer einmaligen Architektur von Gewölben, Gängen, Galerien und Sälen verholfen. Natürlich unter Mitwirkung von Generationen von Bergleuten. Die aber konnten bei der spärlichen Beleuchtung gar nicht richtig sehen, was unter ihren Händen entstand.
Heute ist der Glarner Landesplattenberg virtuos beleuchtet und kann besucht werden. Es lohnt sich!
Von einem solchen Besuch habe ich ein Video gemacht:
Link Landesplattenberg
YouTube https://youtu.be/0bDWW5pU2Pw
10 La valse
Kurz gesagt:
La valse war die am meisten unerwartete aller Kompositionen Ravels. Ihre fantastischen und fatalen Züge und die schliessliche explosive Katastrophe machten das Werk zu einer der erschreckendsten künstlerischen Reaktionen auf den 1. Weltkrieg. Ob dem auch nur annähernd etwas visuell Entsprechendes beizufügen ist? – Sehen Sie selbst. Aber fordern Sie mich nicht zum Duell, wenn Sie enttäuscht sind. (Wer das genauer verstehen will, lese unten.)
Ravel La valse
YouTube https://youtu.be/H49Lp99mAZk
Wer es genauer wissen will:
Am Anfang stand ein Auftrag für eine Ballettmusik von Diaghilev, dem legendären russischen Ballett-Impressario in Paris. Ravel nimmt dafür seine alte Idee für ein Poème symphonique über den Walzer wieder auf. Aus dem 1906 geplanten Werk "Wien" wird "La valse".
Im April 1920 wird Ravels «La valse» im privaten Rahmen auf dem Klavier vorgespielt. Ausser Diaghilev sind auch die Komponisten Strawinsky und Poulenc mit dabei. Diaghilev reagiert kühl auf die Musik und sagt: "Ravel, das ist ein Meisterwerk, aber es ist kein Ballett. Es ist das Gemälde eines Balletts." Ravel zieht darauf seine Musik zurück und arbeitet nie mehr für Diaghilev. "La valse" wird bald schon zu einem beliebten Konzertwerk. Als die beiden Männer sich 1925 wieder begegnen, weigert sich Ravel, Diaghilev die Hand zu geben. Darauf fordert Diaghilev ihn zum Duell. Freunde bewegen Diaghilev dazu, die Forderung zurückzuziehen. Wer weiss, sonst gäbe es vielleicht keinen Boléro, und auch keine Klavierkonzerte von Ravel…! Besser, dass die beiden Feinde sich nie mehr trafen.
La valse wird gerne als Apotheose des Walzers bezeichnet. Das entspricht durchaus der Anziehung durch den Walzer, die Ravel selbst empfunden hat. Er schrieb einem Freund: "Ich schätze die Lebensfreude, die in diesem Tanz zum Ausdruck kommt, weit mehr als den Puritanismus von César Franck." (Allerdings passt Ravels Einschätzung zwar zu den Parteigängern von Franck, den Meister selbst unterschätzt er damit aber sehr.)
Der Komponist George Benjamin bezeichnet La valse als «Geburt, Untergang und Zerstörung eines musikalischen Genres». Tatsächlich ist die Apotheose des Walzers nur der Anfang. Das Stück wird mehr und mehr zu einem Spiegel Europas nach dem 1. Weltkrieg. Von dessen Gräueln hat Ravel als Lastwagenfahrer mehr erlebt, als er eigentlich verkraften kann. 1919 zieht er sich für einige Monate ganz in das Haus eines Freundes in der Ardèche zurück, bis er allmählich seine schöpferische Kraft wieder findet.