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Augen-Post-Musik


Aufmerksamkeit ist das erste Gut heutzutage. Daran führt kein Weg vorbei. Erst danach geht es weiter. 

Darum will meine Augen-Post-Musik Aufmerksamkeit wecken. Nämlich für ausgewählte Musikvideos auf meinem YouTube-Kanal. 

Ich möchte Gründe anbieten, warum es sich lohnt das anzusehen.

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Inhaltsverzeichnis

01   Johannisnacht                          Mussorgsky

02   La vallée d'Obermann              Liszt

03   La mort de Cléopâtre                Berlioz

04   L'après-midi d'un faune            Debussy

05   Le poème de l'extase               Skrjabin

06   Sinfonie der Jungfrau               Tschaikowsky

07      2. Bild

08      3. Bild  

09      4. Bild

10   Kreisende Welt                         Scelsi

11   La valse                                    Ravel

12   Jura                                           Ciurlionis

13   Images / Estampes                   Debussy

14   Bilder einer Ausstellung            Mussorgsky/Kandinsky

15   Aus der Neuen Welt                  Dvorak

16      2. Largo

17      3. Scherzo

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01   Johannisnacht

Den Anfang soll ein Werk machen, das mich völlig in Bann geschlagen hat, als ich es in jungen Jahren erstmals am Radio hörte: „Eine Nacht auf dem Kahlen Berg“ von Mussorgsky. Es war, wie wenn ich schlagartig gespürt hätte, warum der Komponist in einem Brief schreibt: „Für meine „Johannisnacht“ schlief ich nachts nicht und beendete die Arbeit, wie es sich ergab, genau am Vorabend des Johannistags. Etwas kochte in mir auf, dass ich gar nicht wusste, was mit mir los war.“ 

Und so versuchte ich Jahre später zu seiner Musik eine „Bildspur“ zu schaffen, die sichtbar machen will, worum es da geht. Nämlich um die volksmythologischen Geschichten vom Hexensabbat in der Johannisnacht. Was Mussorgsky aus Russland kannte und in den Erzählungen von Gogol nachlesen konnte, das war allgemein und auch bis nach Spanien verbreitet.  Es hat Goya zu manchen seiner berühmten Stiche inspiriert. Ganz nach seinem Motto "Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer."

Auf den Schultern dieser zwei Giganten des Ohrs und des Auges meinte ich einen Versuch wagen zu können. Er hat mich über Jahre beschäftigt: 1994-2011. Zuerst als programmierte Diaschau und schliesslich als Video mit viel weiter entwickelten Möglichkeiten. Goyas Stiche können, was ich nicht könnte: der genialen Musik von Mussorgsky visuell die Waage halten.

Mussorgsky   Eine Nacht auf dem Kahlen Berg

YouTube        https://youtu.be/JIvW3o65UEE

PS für Interessierte

Ich verwende die Fassung des Dirigenten Leopold Stokowski. Sie ist etwas gestraffter als die meistgespielte von Rimsky-Korsakow. (Als hätte Stokowski die mediale Ungeduld von heute bereits geahnt…)

 

 

 

02   La vallée d'Obermann

„La Vallée d‘Obermann“ von Liszt war Teil des Programms BILDERKLAVIER, bei dem ich 1996 Werner Bärtschi am Klavier mit drei Diaprojektoren begleitete, die am Laptop gesteuert wurden. Ein klassisches Live-Konzert mit Bildprojektion, das galt damals als Wagnis - das Werner Bärtchi noch so gerne einging. Leider gibt es davon keine Tonaufnahme. 

„La Vallée d‘Obermann“ gehört zu den Kompositionen, die Liszt in seinen Schweizer Jahren konzipiert hat. 1833 lernt der junge Franz Liszt die Comtesse d'Agoult kennen. Die Gräfin ist verheiratet, doch die beiden werden schnell ein Liebespaar. Als die Gräfin schwanger wird, verlässt das Paar 1835 Paris, um dem Skandal aus dem Weg zu gehen. In der Schweiz war das damals noch möglich. Heute wäre es ein gefundenes Fressen für die Boulevard-Presse…  Zwei Jahre lang bereist die junge Familie die Schweiz, und Liszt hält die Orte, die sie besonders beeindruckt haben, auch musikalisch fest: den Walensee, die Tellskapelle, Genf. Ein Obermanntal würde man allerdings vergebens suchen. Es existiert nur in einer literarischen Schweiz: als Schauplatz eines damals bekannten Romans. 

Das hat mir die Freiheit gegeben, mich bei den Schweizer Aquarellen von William Turner zu bedienen, ohne der Romanhandlung zu folgen. Als der Pianist Konstantin Scherbakow 2011 fünf Stücke aus den der Schweiz gewidmeten  „Années de Pèlerinage“ an der ETH spielte, konnte ich das für 3sat aufzeichnen. Neben „La Vallée d‘Obermann“ und zwei Stücken ohne Bild-Inszenierung stand „La chapelle de Wilhelm Tell“ und „Au lac de Wallenstadt“ auf dem Programm. Dazu zeigte ich diese beiden Orte. Nach einer Aufführung in Weimar schrieb ein Kritiker etwas von Schweiz-Werbung ganz im Sinne des Tourismusvereins. Das waren die Aquarelle von Turner zu seiner Zeit auch. 

Damals wurde die Schweiz mit ihren hindernis-gespickten Bergen, abgelegenen Tälern und wasserreichen Landschaften als Erlebnisraum erst entdeckt. William Turner hatte daran wesentlichen Anteil. Der englische Maler bereiste die Schweiz ab 1802 mehrfach und hielt sie in einer Vielzahl von Aquarellen fest. Zum Stück „La Vallée d’Obermann“ treffen darum Schweizer Aquarelle von Turner mit Liszts Musik zusammen. Zwar geht es im Stück nicht in erster Linie um Landschaftseindrücke, sondern um das Gefühlsleben einer literarischen Gestalt. Gerade das aber lässt die Schweizer Bilder von Turner nicht zur blossen Verdoppelung des schon musikalisch „Gemalten“ werden. Vielmehr erscheinen sie als Erlebnisraum, worin sich das musikalisch geschilderte Innenleben des Helden abspielt. Und wenn dabei die Landschaft zur Spiegelung seiner Stimmungen wird, so entspricht das ganz der romantischen Weltsicht.

Ist das jetzt auch Schweiz-Werbung im Auftrag des Tourismus-Vereins? Zwar gibt es die Orte, die Turner unvergleichlich gemalt hat, aber sein Aquarellpinsel hat sie neu geschaffen und unabhängig von der Realität gemacht. Er liess sich nicht völlig von der Wirklichkeit diktieren. Sein Pinsel war ein Einfallspinsel – nicht zu verwechseln mit «Einfaltspinsel». William Turner arbeitete die vor Ort entstandenen Aquarell-Studien im Atelier in England fertig aus. Sein Ziel war es, sie möglichst verkäuflich zu machen. Das waren sie. Sie weckten die Nachfrage nach mehr davon - aber auch die Nachfrage nach dem Original. Dieses war natürlich nur reisend zu haben. Und einen Tourismus-Verein gab es in der Schweiz nicht. Die vielen Besucher aus England machten mit der Zeit klar, dass es einen solchen brauchte. 1917 wurde die Nationale Vereinigung zur Förderung des Reiseverkehrs gegründet, rund 100 Jahre nach Turners Erkundungen der Schweiz. Angebot und Nachfrage spielten übers Kreuz: Die Nachfrage schuf das Angebot. Heute bemüht sich das Angebot, die Nachfrage zu steigern oder zumindest wach zu halten. Einen freien Mitarbeiter wie William Turner findet Schweiz-Tourismus dafür heute allerdings nirgends.

Liszt            5 Stücke aus «Années de Pèlerinage»:  Suisse

YouTube     https://youtu.be/Rp2-mIA84Sg

03   La mort de Cléopâtre

Niemand merkte es, als Berlioz sein erstes Meisterwerk komponierte! 

Was die Schlussszene einer (nicht geschriebenen) Oper sein könnte, hat mich zuerst zu einer Radiosendung gedrängt - und dann auch eine Bild-Inszenierung verlangt. Mit «La mort de Cléopâtre» schrieb Berlioz 1829 unter den prüfungsartigen Bedingungen des Kompositionswettbewerbs um den grossen französischen Staatspreis Prix de Rome sein erstes Meisterwerk - und bekam keinen Preis. Dreimal hatte er zuvor erfolglos an diesem Wettbewerb teilgenommen und wurde also nun bereits zum vierten Mal wieder allein in ein Zimmer mit Klavier eingeschlossen. In 22 Tagen musste die Komposition fertig sein. Alles was in dieser Zeit von draussen kam: Papiere, Briefe, Bücher, Wäsche wurde sorgfältig kontrolliert, damit niemand den Kandidaten helfen oder raten konnte. Immerhin war es nur eine Halbgefangenschaft. Jeden Abend konnten die Kandidaten Besuch empfangen und sogar ihre Freunde zu angeregten Gelagen einladen, wo zwischen Champagner und Bordeaux dann doch allerhand ausgetauscht werden konnte.

Beim vierten Mal versprach sich Berlioz nun gute Chancen und war entschlossen, sein bestes Werk zu schreiben. Und das tat er. 

„La mort de Cléopâtre“ sagt schon alles über die Situation: Bevor Kleopatra sich die Kobra an die Brust setzt, um aus ihrem ausweglosen Leben zu entfliehen, lässt sie es noch ein letztes Mal Revue passieren.

Berlioz macht daraus eine Oper in der Nussschale, eine überwältigende Szene für eine dramatische Sängerin/Darstellerin. In letzter Zeit wurde das erkannt, und das Stück wird öfter aufgeführt. Als ich darüber 1979 eine Radiosendung machte, war das Werk noch ein seltener Gast im Konzertbetrieb.

Nur die Jury des Rompreises kam es 1829 zu hören – und das erst noch nur mit Klavierbegleitung. Dabei war Berlioz – zu seinem Glück und Unglück – nicht Pianist und komponierte immer direkt die Orchesterpartitur, weil die klangliche Vorstellung für ihn keine blosse Einkleidung war, sondern untrennbar von der musikalischen Idee. Und nun rächte es sich, dass er sich seinem eigenen Gefühl überlassen und eine hervorragende Kantate schreiben wollte, statt sich um die Erwartungen der Jury zu kümmern. Diese vergab 1829 überhaupt keinen ersten Preis.  Berlioz bekam sein erstes Meisterwerk im ganzen Leben nie zu hören.

Später erinnerte er sich nur noch an die Meditation, in der Kleopatra die grossen Pharaonen der ägyptischen Geschichte anruft. Das ist sicher einer der vielen Höhepunkte dieser Komposition. Berlioz machte daraus den Geisterchor in seinem «Lélio», einem lyrischen Monodrama, das als Fortsetzung der «Symphonie fantastique» gedacht war. (Und im totalen Gegensatz dazu kaum je aufgeführt wird.)

Berlioz        "La mort de Clèopâtre"    habe ich dafür gleich doppelt auf YouTube:

   -  gesungen von Jessye Norman:    https://youtu.be/nPJ5Qk-kMoo

   -  gesungen von Véronique Gens:   https://youtu.be/8L7--Ob3nYk

04   L'après-midi d'un faune

Ganz genau heisst das Stück: "Prélude à l’après-midi d’un faune". Denn Debussys Musik entstand als Vorspiel für eine geplante (und nicht erfolgte) Rezitation des Gedichts „Nachtmittag eines Fauns“. Mallarmés Gedicht spielt vor dem Hintergrund des Mythos von der Begegnung zwischen Pan und der schönen Waldnymphe Syrinx. Syrinx war eine glühende Verehrerin von Diana. Berühmt für ihre vogelgleiche Stimme wurde sie häufig von Satyrn und Waldgeistern verfolgt, doch immer gelang es ihr, sie auszutricksen. Eines Tages traf Pan sie im Wald und machte ihr Komplimente wegen ihrer Ähnlichkeit mit der Göttin. Syrinx lief sofort weg, aber Pan verfolgte sie, bis sie ein Flussufer erreichten, wo er sie packte. Syrinx rief ihre Schwestern, die Fluss-Nymphen zu Hilfe, und diese verwandelten sie in ein Schilfrohr. Pan schloss seine Arme um die vermeintliche Nymphe – und hielt nur Schilf umfangen. Als er seufzte aus Enttäuschung darüber, sie verloren zu haben, tönte sein Atem durch das Schilf und wurde zu einer klagenden Melodie. Von der Süsse dieser Musik entzückt, sagte er: Wenigstens du sollst mein sein, und machte aus einigen Schilfrohren ein Instrument, das er zu Ehren der Nymphe Syrinx nannte.

Dieser Mythos ist eine allegorische Beschreibung, wie Musik und vielleicht jede Kunst geboren ist aus der glühenden Verfolgung von Schönheit. Bei Mallarmé geht die Geschichte zusammengefasst so:

Ein schlafender Faun erwacht am Nachmittag und versucht die Ereignisse des Morgens zu erinnern, als er zwei Nymphen entführt hat – oder vielleicht auch nicht. Sein erster Impuls ist, die Nymphen weiter zu verfolgen, um sie für immer in seinem Geist festzuhalten. Dazu ruft er sich die Einzelheiten der Begegnung mit ihnen in Erinnerung. Er schnitt Schilf an einem Seeufer für seine Panflöte, als er eine Gruppe von badenden Nymphen erspähte. Durch das Schilf beobachtete er sie, doch als er seine Flöte stimmte, schreckte der Klang die Nymphen auf und sie flohen. Er verfolgte sie in den Wald und entdeckte dort zwei andere schlafende Nymphen. Er hob sie auf und trug sie zu einem sonnenbeschienenen Platz, wo er ... der Faun ist nicht sicher, was dann passiert ist, nur dass die Nymphen ihm entwischt sind. Zuerst hat er Gewissensbisse, was er getan haben könnte, aber schliesslich setzt sich seine tiefere Natur durch. „Schade!“, sagt er, „andere werden mich zum Glück führen mit ihren Zöpfen, die an meine Hörner geknüpft sind.“ Aber als der Abend näher kommt, kehrt seine fiebernde Phantasie zurück zur nagenden Frage seiner Schuld. Für einen Augenblick stellt er sich vor, Venus selbst in den Armen zu halten, bevor er sich klar wird, dass ein solches Verbrechen sichere Strafe bedeutet. Schliesslich streckt er sich aus, die Weinflasche neben sich, und schläft wieder ein. Die Nymphen verabschiedend kehrt er zurück in den Traum, aus dem er zu Beginn des Gedichts erwachte.

Kein Wunder hat diese Handlung das Interesse der Choreographen geweckt. Und kein Geringerer als Vaclav Nijinskij hat dazu 1912 seine erste eigene Choregraphie geschaffen. Gerade durch ein abgehacktes Gebärdenspiel, das so unnatürlich wie möglich wirkte, drückte er die Rückkehr zu den Urinstinkten aus. "Sein Kopf wendet sich mit einer Begehrlichkeit, die ebenso linkisch wie gewollt ist und die man für echt hält." Das sagte Auguste Rodin über Nijinskij als Tänzer des Fauns. (Seine Choreographie wurde übrigens mit Rudolf Nurejew in der Hauptrolle 1981 rekonstruiert und ist auf YouTube zu finden: https://youtu.be/GNiJlgH65zM?si=i4jWHjGXFMDddojK

Nijinskij hat mit seiner Darstellung dessen, was die Musik diskret verschweigt, einen erfolgreichen Skandal provoziert:

"Ein pumper Faun mit vulgären Bewegungen von animalischer Erotik und schwerfälligen, geschmacklosen Gesten, allzu eindeutige Pantomime des missglückten Tierkörpers, animalische Gegenständlichkeit" - so lauteten die Hauptargumente des Direktors des FIGARO, als er 1912 eine Kritik der Uraufführung unterdrückte. Er erreichte damit, dass der Faun ein absolutes gesellschaftliches Muss wurde.

Ein Journalist schreibt: "Wenn der Vorhang sich öffnet, durchläuft ein Schauer der Neugier den überfüllten Saal. Der Faun mit seinem braun-weiss gefleckten Körper spielt auf der Flöte. (...) Die Operngläser sind gezückt und auf die richtige Entfernung eingestellt. Am liebsten sollten die Anstössigkeiten sofort beginnen. (...) Ach! Es scheint, als hätte man die Sache zu sehr vereinfacht. Der Tänzer breitet den Schleier, den er der Nymphe geraubt hat, zwischen seinen Armen aus und betrachtet ihn. (...) Der Vorhang fällt. Der Beifall hebt an. (...) Selten ist es uns vergönnt, einem derartigen Triumph beizuwohnen."

Das Motiv von Mallarmés Gedicht ist sowohl in der Literatur wie in der bildenden Kunst weit verbreitet. Mallarmé verschlüsselt die Sache in seiner komplex-bildhaften Sprache, und gibt ihr gleichzeitig einen weiten weltanschaulich-philosophischen Horizont. Diesen aber kann weder eine Choreographie noch eine optische Inszenierung zureichend umsetzen. Wie die Musik ja auch nicht das Gedicht in sich aufgehen lassen und ersetzen will, sondern ihm einen musikalischen Rahmen gibt (und eben nicht nur ein blosses Vorspiel ist), so will meine optische Paraphrase nicht das Gedicht umsetzen, sondern es umkreisend erweitern.

Eine Art Zeitreise soll den archetypischen Charakter der Situation herausstellen. Darstellungen von „Faun und Nymphe(n)“ aus der bildenden Kunst bilden den Anfang. Heute indes trifft man kaum mehr Faune in Wald und Feld. Die meisten haben sich in die Städte begeben und sehen aus wie du (falls männlich) und ich. Und auch die Nymphen sind ihnen gefolgt. Sie spiegeln sich lächelnd, kokett, verführerisch und lasziv auf allen Plakatwänden und auf den unzähligen Seiten unzähliger Zeitschriften. Ausserdem hat, was heute ein rechter Faun ist, natürlich Internet-Anschluss und findet seine Nymphen weltweit virtuell frei Haus...und das gleich in einer solchen Menge, dass er schliesslich am liebsten die Augen schliessen würde und zurückfinden aus dem weltweiten Netz in den schmeichelnden Tagtraum seines Urahnen mit Hörnern und Bocksfüssen, der allein mit seiner Flöte...

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Debussy          Prélude à l'après-midi d'un faune

YouTube          https://youtu.be/4Upc8LrKeBs

PS 1

Debussy schrieb an einen Kritiker:

Le Prélude à L’Après-midi d’un Faune, c’est peut-être ce qui est resté de rêve au fond de la flûte du faune? Plus précisément c’est l’impression générale du poème, car à la suivre de plus près, la musique s’essoufflerait ainsi qu’un cheval de fiacre concourant pour le Grand Prix avec un pur-sang. … Maintenant, cela suit tout de même le mouvement ascendant du poème, et c’est le décor merveilleusement décrit au texte avec en plus l’humanité qu’apportent trente-deux violonistes levés de trop bonne heure. La fin, c’est le dernier vers prolongé: "Couple, adieu, je vais voir ce que tu devins."

PS 2

Meine Video-Inszenierung wurde in einer Bearbeitung der Musik für kleines Ensemble (das geht!) an der EXPO 02 vom Nouvelle Ensemble contemporain, Leitung Pierre-Alain Monot, 2002 in Murten uraufgeführt.

05   Le poème de l'extase

Musik unter Pornographie-Verdacht - so geschah es dem Orchester-Gedicht "Le poème de l'extase", das Alexander Skrjabin 1908 komponierte. Zuerst schrieb er dafür ein Gedicht (aus Worten) mit dem gleichen Titel, in dem er das geistige Programm der Musik formulierte. Es stellt dar, wie der schöpferische Mensch gegen feindliche Mächte kämpfen muss und schliesslich in einem kosmischen Höhenflug den Sieg erringt. (siehe PS) 

In seiner Komposition unternahm es Skrjabin sodann, den Prozess der schöpferischen Ekstase musikalisch zu beschwören. Meiner Video-Inszenierung liegt das von ihm selbst formulierte Programm zugrunde. Sie wurde am Menuhin Festival Gstaad 2008 vom Russischen Nationalorchester unter der Leitung von Mikhail Pletnev uraufgeführt. Der Versuch den ekstatischen Höhenflug der Musik visuell zu inszenieren hat beim Publikum Begeisterung, festival-intern aber auch Empörung ausgelöst. 

Von Pornografie war die Rede. Stein des Anstosses: Zeichnungen von Gustav Klimt, die zeitgleich zur Komposition von Skrjabin entstanden sind. Offenbar potenziert die Musik die Wirkung von Klimts Kunst nachhaltig...

In seinem Beethoven-Fries hat Klimt 1901 eine visuelle Interpretation von Beethovens 9. Sinfonie gemalt. Sie erstreckt sich im oberen Teil von drei U-förmig angeordneten Wänden über 34 Meter und ist 2 Meter hoch. Seit 1986 ist im Untergeschoss der Wiener Secession zu bestaunen. Klimt hat sich für seine Malerei an der Ausdeutung von Beethovens Musik durch Richard Wagner orientiert. Doch die Bilder wollen stilistisch zu Beethoven nicht recht passen. Allerdings zeigen sie getreu nach Richard Wagners "Beethoven"-Verständnis einen Helden, der sich gegen feindliche Mächte behaupten muss - und zeigen darin eine deutliche Entsprechung zu Skrjabins Gedicht. Auch die Ekstase findet in Klimts Bildwelt, speziell in seinen Zeichnungen, manches Gegenstück. Gegenüber einem Freund hat Skrjabin bestätigt, dass die schöpferische Erregung alle Zeichen des Sexuellen habe. In seinem Tagebuch von 1904/05 schreibt er:

Schöpferischer Drang bringt uns ins Gebiet der Ekstase – ausserhalb von Raum und Zeit. (...) Ekstase ist höchste Steigerung der Tätigkeit, Ekstase ist ein Gipfel. (...) In der Form des Denkens ist Ekstase – höchste Synthese. In der Form des Fühlens ist Ekstase – höchste Wonne. In der Form des Raumes ist Ekstase – höchste Entfaltung und Vernichtung.

 

Meine Video-Projektion auf Grossleinwand über dem Orchester fügt der Musik ein zusätzliches visuelles „Instrument“ hinzu. Und das ist jedenfalls ganz im Sinn des Komponisten, der schon 1910 sein Orchester um ein Farbenklavier erweitert sehen wollte.

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2008 zeigte 3sat die Aufzeichnung der Aufführung vom Menuhin Festival Gstaad - vorsichtshalber erst um 23.15 Uhr.

Skrjabin       Le poème de l'extase

YouTube      https://youtu.be/lkKwzOE6lyM

 

PS

Le poème de l’extase   (Auszüge aus dem Gedicht)

Der Geist   Vom Lebensdurst beflügelt,   Schwingt sich auf zum kühnen Flug (…)

Formt sich eine Zauberwelt (…)

Ergibt sich der Wonne der Liebe.    Inmitten seiner Traumgestalten   Verweilet er in Sehnsucht.

Im Höh’nflug der Begeisterung   Erweckt er sie zum Blühen. (…)

Aber plötzlich –   Drohende Rhythmen   Düsterer Ahnungen   Dringen rauh   In die Zauberwelt ein.

Doch einen Moment nur.   Durch leichte Erkraftung   Des göttlichen Willens   

Kann er verscheuchen   Die Schreckgestalten. (…)

Inmitten seiner blühenden Geschöpfe   Verweilet er nun küssend,   Mit einer Fülle von Reizen   Ruft er sie zur Ekstase. (…)

Aber von neuem  (…)   Wogt schrecklich auf (…)   Furchtbarer Wesen   Wirres Getose;   Alles droht es   Zu verschlingen. (…)

Der leidende Geist,   Durch Zweifel Kummer schaffende Geist,   Ergibt sich der Qual der Liebe. (…)

Aber plötzlich – (…)   Von Strahlen der Hoffnung   Aufs neue erleuchtet (…)   Entbrennet er. (…)

Erfüllt von Zorn   Und Empörung (…)

Vergessend das ersehnte Ziel,   Stürzet der Geist sich in trunkene Kämpfe. (…)

Er will den Sieg, (…)   Er triumphiert! (…)   Doch was verdüstert   Diesen Freudenmoment? (…)

Dass sein Ziel ist erreicht. (…)

Und einen Moment   Fühlt er   Langweile, Verzagen und Öede.

Aber vom Durst nach Leben   Aufs neue beflügelt   Schwingt er sich auf (…)

Und durch nichts beunruhigt   Kann er sich ewig ergeben   Seinen geliebten Träumen. (…)

Doch das zersetzende Gift   Der Einförmigkeit   Der Wurm der Uebersättigung   Verzehrt das Gefühl. (…)

Rückgekehrt aus freiem Willen   In die Welt erregter Träume   Begreift er wunderbar den Sinn

Des Geheimnisses des dunklen Bösen. (…)

Wiederum Kämpfe, Einsatz des Willens,   Der Wunsch, zu besiegen.   Von neuem Sieg, wiederum Trunkenheit (…)

Und Uebersättigung   .In diesem ewigen Rhythmus   Schlage, Lebenspuls, stärker! (…)

Meine Blüte, meine Ekstase!   Jede Spanne eures Daseins   

Schaffe ich durch die Verneinung   Früher durchlebter Formen.

 

06   Eigentlich eine "Sinfonie der Jungfrau"

Kurz gesagt:

Die „Manfred-Sinfonie“ von Tschaikowski steht neben seinen sechs nummerierten Sinfonien und ist eigentlich eine Sinfonische Dichtung in Sinfonie-Form. Sie folgt nämlich sehr genau einer aussermusikalischen Vorlage von Lord Byron. Weil sie also eine Geschichte erzählt, bietet sie sich an, diese auch sichtbar zu machen. 

 

In den nächsten Zusendungen von Augen-Post-Musik werde ich den vier Sätzen der Sinfonie, die ausdrücklich "Bilder" heissen, je kurze Moderationen vorausschicken. Sie fassen zusammen, was die Sinfonie der Jungfrau erzählt.

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Das 1. Bild beginnt in einem mittelalterlich-düsteren Alpenschloss. Hier frönt Manfred seinen magischen Künsten, gepeinigt von einer geheimnisvollen Schuld. Um Mitternacht hält er Zwiesprache mit den Naturgeistern, die er sich dienstbar gemacht hat. Doch sie können seine Sehnsucht nach Vergebung und Seelenfrieden, nach Versöhnung mit sich selbst nicht erfüllen.

Auf dem Gipfel der Jungfrau dann vergleicht Manfred die majestätische, leuchtende Gebirgswelt mit der düsteren, öden Landschaft seiner Seele. Zwar ist er tief in die Geheimnisse der Natur eingedrungen, aber ihre Schönheiten lassen ihn kalt. Mit sich und der Welt zerfallen will er sich in die Tiefe stürzen – da hält ihn ein Gemsjäger im letzten Augenblick zurück und lädt ihn in seine Hütte ein.

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VIDEO        1. Bild        

YouTube     https://youtu.be/8w3M9Ni3gnA  

 

Wer es genauer wissen will:

Tschaikowski schrieb seine „Manfred-Sinfonie“ nach der 4. und vor der 5. Sinfonie im Sommer 1885. Bei einem Aufenthalt in Davos hatte er das damals berühmte Werk von Lord Byron gelesen. Heute ist Manfred einfach ein Vorname. Damals hingegen war es ein Name wie zum Beispiel «Faust». Der Vergleich mit Faust ist aber nicht nur eine Spielerei. Denn Manfred ist eine Faust verwandte Gestalt: ein Naturforscher und Wahrheitssucher mit magischen Kräften, den Geheimnissen von Natur und Schöpfung auf der Spur. Und er ist belastet von Schwermut und umgetrieben von Schuld. Worum es dabei geht, wird erst allmählich langsam klarer: offenbar um den Inzest mit seiner Schwester Astarte.

Manfred ist unschwer als Doppelgänger von Byron selbst (1788-1824) erkennbar. Er hatte eine sehr enge Beziehung zu seiner Halbschwester Augusta Leigh, die als inzestuös verdächtigt wurde. Für Augusta schrieb er ein Tagebuch, als er im September 1816 vom Genfersee kommend das Berner Oberland in ausgedehnten Wanderungen erkundete. Und hier siedelt Byron im folgenden Jahr 1817 dann auch die Handlung seines "Manfred" an: Auf dem Gipfel der Jungfrau, am Wasserfall in einem tiefen Alpental, bei einer Hütte in den Berner Alpen – so lauten ein paar der Szenenangaben. Orte, die auch Tschaikowski von seinen Aufenthalten in Interlaken (1870) und Clarens (1877/78) kannte. Ganz zu Recht kann man also von einer „Sinfonie der Jungfrau“ sprechen.

Schon Byron selbst wusste, dass sein „Gedicht in Dialogform“ für die Bühne ungeeignet ist. Er sprach von Gedankentheater. Gerade das aber machte seinen "Manfred" geeignet für die Umsetzung in Musik, wie vor Tschaikowski ja auch schon Schumann bewiesen hat. Und es macht es sinnvoll, die Sinfonie in vier „Bildern“ (wie Tschaikowski die Sätze ausdrücklich nannte) als „szenische Komposition“ für Video und Orchester aufzuführen.

Die Musik wird dabei als Fantasieraum optisch inszeniert. Zu sehen sind einerseits die realen Schauplätze im Berner Oberland, die den Dichter inspiriert haben. Sie erhalten durch die Musik etwas vom Geheimnis zurückgespiegelt, das Byrons Fantasie beflügelt hat. Dazu treten Bildzitate von John Martin, Heinrich Füssli, Francisco Goya, Dante Gabriel Rossetti, Luca Giordano und anderen, die mit den Mitteln heutiger Video-Montage animiert werden. Die Verschmelzung realer Landschafts-Szenen mit bildender Kunst erlaubt die suggestive Gestaltung einer Fantasiewelt jenseits „platter“ Abbildung. Musik und Video verbinden sich zu einem Gesamt-Erlebnis, das eigene Wege geht.

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Was hier und jetzt wie ein Film aussieht, stellt das übliche Verhältnis von Bild und Musik eigentlich auf den Kopf. Die Musik ist nicht Dienerin des Bilds wie im Film. Vielmehr will das Bild der Musik dienen und erzählen, was Tschaikowski getreu nach Byrons Vorlage in Musik gesetzt hat. In einer Live-Aufführung setzt das voraus, dass die Musik frei bleibt. Die Bild-Projektionen sind darum im Computer nur vorbereitet. Im Moment der Aufführung werden sie jedes Mal neu generiert. Dirigent und Orchester müssen sich also nicht nach dem Bild richten, sondern spielen ganz frei. Die Video-Projektion wird als ein zusätzliches „optisches Instrument“ mitgespielt. Die Uraufführung fand am Festival Interlaken Classics 2010 statt, umgeben von der Landschaft, in der die Geschichte spielt. Vladimir Ashkenazy, der das EU Youth Symphony Orchestra leitete, war zuerst skeptisch - aber nur bis er das Video gesehen hatte. Das Konzert wurde für 3sat aufgezeichnet und ausgestrahlt. Dieses Dokument ist allerdings gesperrt. Wahrscheinlich hat Ashkenazy die weitere Verwendung verboten. Stattdessen habe ich das Video auf eine Aufnahme mit dem Royal Liverpool Philharmonic Orchestra unter der Leitung von Vasily Petrenko adaptiert, erschienen bei Naxos.

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07   "Sinfonie der Jungfrau" 2. Bild​ 

Das 2. Bild spielt an einem Wasserfall. Hier begegnet Manfred der Alpenfee. Er beschreibt sich als Einzelgänger von Jugend an, von der Gesellschaft isoliert und seinen Mitmenschen entfremdet. Die Alpenfee bietet ihm ihre Dienste an, wenn Manfred sich ihr unterordnet. Aber er ist stolz und will nicht einem Geist gehorchen, den er selbst beschworen hat.

VIDEO        2. Bild

YouTube     https://youtu.be/l4QhhR5mEOI

08   "Sinfonie der Jungfrau"  3. Bild

Im 3. Bild lernt Manfred beim Gemsjäger in den Berner Alpen das arme, aber freie Leben der Bergler kennen. Doch schliesslich behauptet Manfred sein eigenes Recht gegenüber dem einfachen Leben: "Ich kann, wenn elend auch, ich kann doch tragen, was andre nicht im Traum ertrügen", hält er dem Gemsjäger entgegen.

 

VIDEO        3. Bild

YouTube     https://youtu.be/G1CWHOx6Sig

09   "Sinfonie der Jungfrau" 4. Bild

(Damals habe ich meine Arbeit an der Manfred-Sinfonie mit dem 4. Bild begonnen. Wenn mir das gelingen würde, dann könnte ich das ganze Werk versuchen. Und als ich dann die ersten drei Bilder geschafft hatte, war ich froh, dass das 4. Bild schon bereitlag…) Es führt in die unterirdischen Paläste von Ariman, dem höchsten Geisterfürsten. Dort erscheint Manfred mitten in einer teuflischen Orgie. Es gelingt ihm schliesslich, Ariman zu bewegen, den Schatten von Astarte erscheinen zu lassen – jener Frau, wegen der Manfred schon auf Erden Höllenqualen leidet, weil er fürchtet, sie durch seine sündhafte Liebe umgebracht zu haben. Sie verkündet ihm seinen nahen Tod, weicht aber seiner Bitte um Vergebung aus. Als die Dämonen dem sterbenden Manfred die Seele abverlangen, erteilt er ihnen eine klare Absage: "Ich sterbe so, wie ich gelebt habe – allein."

 

VIDEO        4. Bild

YouTube     https://youtu.be/newdnyzRnX0

Wer Genaueres wissen will zur Stellung dieser Sinfonie im Schaffen von Tschaikowski:

Wie gesagt ist die Manfred-Sinfonie zwischen der vierten und der fünften entstanden. Sie wird aber viel weniger aufgeführt als die Nummern vier, fünf und sechs. Tschaikowski selbst schätzte seine Manfred-Sinfonie zunächst hoch ein. Dann verfiel er ins Gegenteil und wollte nur den ersten Satz als symphonische Dichtung behalten, die anderen drei Sätze aber vernichten. Glücklicherweise schritt er nie zur Tat. Seine schwankende Einschätzung ist keine Seltenheit. Auch die 5. Sinfonie empfand er nach der 4. als Rückschritt, ja als Versagen. Ich kenne niemanden, der das versteht. 

Bei der Manfred-Sinfonie könnte sowohl für die zuerst positive wie die nachher negative Einschätzung der gleiche Grund verantwortlich sein. Das Thema des Inzests dürfte Tschaikowski einerseits angezogen haben, denn es hat eine Parallele zu seiner Homosexualität. Sie war genauso verfemt, tabu, und musste versteckt werden. Und gerade die Zwänge dieses Versteckspiels, das sein Leben belastete, könnten Tschaikowski dann den Manfred verleidet haben. Das bleibt natürlich Spekulation. Und es gibt auch noch eine andere Ebene, die erklären könnte, warum Tschaikowski seinen Manfred so instabil eingeschätzt hat – und warum die Sinfonie viel weniger aufgeführt wird. Es fällt nämlich auf, dass sogenannte „symphonische Dichtungen“, also die von Franz Liszt so benannte symphonisch erzählende Musik, fast immer einsätzig ist. Weil sie dem Fortgang einer Geschichte folgt, kann sie eine ganz eigene Form annehmen. Aber diese Form muss auch „rein musikalisch“ überzeugen, die zu erzählende Geschichte garantiert noch lange keine gute Musik. Dieses Problem spitzt sich bei einer Sinfonie in vier Sätzen noch zu.

Wenn Tschaikowskis "Manfred"-Sinfonie viel weniger aufgeführt wird als ihre allgegenwärtigen Schwestern, könnte es sein, dass sie erst zu ihrer vollen Wirkung kommt, wenn man die Geschichte, die sie erzählt, nicht nur kennt, sondern im Verlauf der Musik auch wirklich verfolgen kann? Ich war jedenfalls überrascht, wie zwanglos und detailgenau passend sich Tschaikowskis Musik und Byrons Drama verknüpfen liessen.

PS

Zum Schluss noch eine Fussnote, die vielleicht interessiert:

Den unterirdischen Palast von Ariman habe ich im Landesplattenberg bei Elm gefunden. Das ist ein ehemaliges Bergwerk, wo Schieferplatten abgebaut wurden. Dabei ist im Laufe der Zeit eine riesige Höhle entstanden, die ihresgleichen sucht. Weil der Abbau den schiefliegenden Schichten folgen musste, hat die Natur zu einer einmaligen Architektur von Gewölben, Gängen, Galerien und Sälen verholfen. Natürlich unter Mitwirkung von Generationen von Bergleuten. Die aber konnten bei der spärlichen Beleuchtung gar nicht richtig sehen, was unter ihren Händen entstand.

Heute ist der Glarner Landesplattenberg virtuos beleuchtet und kann besucht werden. Es lohnt sich! 

Von einem solchen Besuch habe ich ein Video gemacht:

Link            Landesplattenberg 

YouTube     https://youtu.be/0bDWW5pU2Pw

10   Kreisende Welt

Zur Abwechslung etwas ganz Neues:

Nachdem ich vor 50 Jahren erste Versuche bleiben liess, ist mir jetzt aus einer „zufälligen“ Beobachtung ein Gedicht zugeflogen. 

Kreisende Welt

Die ausgebreiteten Flügel kaum bewegt

Zieht ein Raubvogel seine Kreise

Als würde er mit schwingendem Pinsel

An den Himmel gezaubert.

 

Sein Kreisflug breitet 

wundersame Harmonie aus.

Der Maus, die er zu entdecken hofft, 

verspricht er den Tod. 

 

Sodass sie ins Kreisen gelangt

Wie er - im fortwährenden Wandel,

Der aus dem immer Gleichen

Immer wieder Neues schafft.

(Spontan schrieb ich am Anfang der dritten Strophe statt Sodass zuerst Damit. Das würde aber eine Absicht unterstellen. Die Natur kennt keine Absicht. Sie hat nur Folgen.)

 

Dass das Gedicht eine Video-Version im Schlepptau haben würde, war nicht  vorauszusehen - aber auch nicht ausgeschlossen.

 

Scelsi          Kreisende Welt

YouTube     https://youtu.be/CXQSEDdWFWY

Zu hören ist "Natura Renovatur" von Giacinto Scelsi für 11 Streicher (1967), allerdings nur der Anfang, der nicht erahnen lässt, was dann noch folgt... Es spielt das Orchestre Royal de Chambre de Wallonie, Leitung Jean-Paul Dessy (Forlane 16800 © 2000) ​

11   La valse

​Kurz gesagt:

La valse war die am meisten unerwartete aller Kompositionen Ravels. Ihre fantastischen und fatalen Züge und die explosive Katastrophe am Schluss machten das Werk zu einer der erschreckendsten künstlerischen Reaktionen auf den 1. Weltkrieg. Ob dem auch nur annähernd etwas visuell Entsprechendes beizufügen ist? – Wer enttäuscht ist, fordere mich bitte nicht zum Duell. (Um das richtig zu verstehen, siehe unten.)

 

Ravel          La valse

YouTube     https://youtu.be/H49Lp99mAZk

Wer es genauer wissen will:

Am Anfang stand ein Auftrag für eine Ballettmusik von Diaghilev, dem legendären russischen Ballett-Impressario in Paris. Ravel nimmt dafür seine alte Idee für ein Poème symphonique über den Walzer wieder auf. Aus dem 1906 geplanten Werk "Wien" wird "La valse". 

Im April 1920 wird Ravels «La valse» im privaten Rahmen auf dem Klavier vorgespielt. Ausser Diaghilev sind auch die Komponisten Strawinsky und Poulenc mit dabei. Diaghilev reagiert kühl auf die Musik und sagt: "Ravel, das ist ein Meisterwerk, aber es ist kein Ballett. Es ist das Gemälde eines Balletts." Ravel zieht darauf seine Musik zurück und arbeitet nie mehr für Diaghilev. "La valse" wird bald schon zu einem beliebten Konzertwerk. Als die beiden Männer sich 1925 wieder begegnen, weigert sich Ravel, Diaghilev die Hand zu geben. Darauf fordert Diaghilev ihn zum Duell. Freunde bewegen Diaghilev dazu, die Forderung zurückzuziehen. Wer weiss, sonst gäbe es vielleicht keinen Boléro, und auch keine Klavierkonzerte von Ravel…! Besser, dass die beiden Feinde sich nie mehr trafen.

La valse wird gerne als Apotheose des Walzers bezeichnet. Das entspricht durchaus der Anziehung durch den Walzer, die Ravel selbst empfunden hat. Er schrieb einem Freund: "Ich schätze die Lebensfreude, die in diesem Tanz zum Ausdruck kommt, weit mehr als den Puritanismus von César Franck." (Allerdings passt Ravels Einschätzung zwar zu den Parteigängern von Franck, den Meister selbst unterschätzt er damit aber sehr.)

Der Komponist George Benjamin bezeichnet La valse als «Geburt, Untergang und Zerstörung eines musikalischen Genres». Tatsächlich ist die Apotheose des Walzers nur der Anfang. Das Stück wird mehr und mehr zu einem Spiegel Europas nach dem 1. Weltkrieg. Von dessen Gräueln hat Ravel als Lastwagenfahrer mehr erlebt, als er eigentlich verkraften kann. 1919 zieht er sich für einige Monate ganz in das Haus eines Freundes in der Ardèche zurück, bis er allmählich seine schöpferische Kraft wieder findet.

12   Jura

Ein Wunschtraum erfüllt sich: 
Wenn es doch einen Komponisten gäbe, der auch gemalt hat! Dann könnte man Ohr und Auge wohlbegründet zusammenführen. 
Das gibt es zwar. Am bekanntesten wohl Schönberg. Nur - sagen wir mal: nicht gerade inspirierend. 
Anders Mikolajus Konstantinas Ciurlionis (1875-1911). - Nie gehört ?
Er ist der unwahrscheinliche Fall, dass Komponieren und Malen in seinem Schaffen gleich bedeutend waren. Sein grösstes Orchesterwerk diene als Probe aufs Exempel: „Jura“, entstanden 1903-07. Der Titel bedeutet auf Litauisch „Meer“. Das wird hier zu „Im Bildermeer“.

Ciurlionis      Jura

YouTube       https://youtu.be/wqNfXo6xfrI
 

Wer mehr wissen will:

Mikolajus Konstantinas Ciurlionis gilt als Begründer sowohl der Litauischen Musik wie der Litauischen Malerei. Eine Personalunion von Musiker und Maler, die - so gleichrangig ausgeprägt - einzigartig ist. Als Ciurlionis 1903 sein Werk "Jura" begann, schrieb Debussy gerade an seinen drei symphonischen Skizzen "La mer". Ein Einfluss auf Ciurlionis ist also ausgeschlossen und auch nirgends feststellbar. Zwar dürfte Ciurlionis Musik von Richard Strauss gekannt haben, doch seine Musik hat einen ganz persönlichen Charakter. 

Eigentlich bin ich hier von meinem Prinzip abgewichen, denn „Jura“ erzählt keine greifbare Meer-Geschichte. Der Titel „Im Bildermeer“ vermag das höchstens zu kaschieren. Doch die Möglichkeit, aus der Innenwelt eines einzigen Menschen sowohl Musik wie Bilder zu schöpfen - und das auf diesem Niveau - ist so einmalig, dass ich mich gerechtfertigt fühle.

Der Bilderbogen spannt sich von der Weltschöpfung über die Märchen, das Meer und die Sternbilder zur Freundschaft - und zwischen Phantasien von Glück und Visionen von Gefahr schliesslich zur Ewigkeit. Die Abfolge der Titel, die Ciurlionis seinen Bildern gegeben hat, mag eine Andeutung davon geben, wie er die Welt gesehen hat:

  • Weltschöpfung 1-13

  • Die Anbetung der Sonne

  • Hymne 1

  • Kunde

  • Märchen 2-1-3

  • Wald

  • Märchen der Könige

  • Gedanke, Gedanken

  • Sonate 1: Allegro-Andante-Scherzo-Finale

  • Präludium-Fuge

  • Vytis-Präludium

  • Sonate V "Meer": Allegro-Andante-Finale

  • Phantasie (Dämon)

  • Blitz

  • Berg 

  • Rex

  • Opfer

  • Ruhe

  • Sonne 1-12Wassermann-Fische-Widder-Stier-Zwillinge-Krebs-Löwe-Jungfrau-Waage-Skorpion-Schütze-Steinbock

  • Gedanke: Freundschaft

  • Nacht 4

  • Sommer Triptychon

  • Sommer

  • Phantasie

  • Abend 3

  • Vision

  • Sonate Vi "Sternen": Allegro-Andante

  • Gefahr

  • Komposition 1

  • Tag 2

  • Stadt 1-2

  • Gedanke: Ewigkeit

"Jura - im Bildermeer" wurde von Christof Escher mit dem Symphonischen Orchester Zürich 2008 in der Zürcher Tonhalle uraufgeführt. 

2013 führte Kaspar Zehnder das Werk mit Video-Inszenierung zweimal in Ciurlionis' Heimatland Litauen auf. Ein unvergessliches Erlebnis. 

13   Haben Sie Debussy gesehen?

So könnte man tatsächlich fragen – in Anbetracht der vielen Titel, mit denen Debussy auf Sichtbares verweist. Debussy war der Maler unter den Komponisten. Oft haben bestimmte Bilder seine Werke inspiriert. Maler waren seine Freunde. Farben sind zentral für seine Musiksprache. Alles Gründe, die Debussy zum idealen Partner für ein Programm machen, das Ohren und Augen vereint ansprechen will. Und alles zugleich Fallstricke. Nur sehen, was man bereits hört, genügt nicht. Sehen, was eine Musik inspiriert hat, ist anregend, aber noch nicht ein anregendes Programm. Darüber hinaus soll das Video eine Antwort auf Debussy sein. So wie er mit Musik auf den Impuls eines Bildes geantwortet hat, antwortet das Videobild auf den Impuls seiner Musik.

​​

Pagodes 

ist jenes Stück, das am direktesten beeinflusst ist von den tiefen Eindrücken, die  Debussy an den Pariser Weltausstellungen von 1889 und 1900 empfing: Gamelan-Orchester von Jojakarta und Tänzerinnen aus Java beeindruckten nicht nur Debussy mit ihrer höchst entwickelten Kunst in einer ganz anderen Tradition als der europäischen. Auf einer Fotografie von 1889 geben vier dieser Tänzerinnen einen fernen Eindruck dieser Faszination. Pagoden sind Tempel, die gewissermassen die Mauern ausklammern (wie Paul Claudel schreibt) und stattdessen die Dächer übereinander schichten und ihre Ecken nach oben ziehen. Sie sind also eine architektonische Parallele zu einer Musik, die (wie Debussy schreibt) „Nuancen kennt, die man gar nicht mehr benennen kann, und wo Tonika und Dominante nur Phantome sind für ungebildete Kinder“.

Debussy      Pagodes

YouTube      https://youtu.be/_aFQQB9mdzI 

  

Mouvement

thematisiert die Bewegung als Prinzip. Das ruft nach dem bewegten Bild, also dem Film. Doch die Herausforderung ist grösser, musikalische Bewegung nicht durch optische Bewegung zu verdoppeln, sondern sie in Sinnbildern zu symbolisieren. Die fünf Tanzstudien, die in faszinierender Art Bewegungsenergie festzuhalten vermögen, stammen vom Fotografen Andreas Zihler.

Debussy      Mouvement

YouTube      https://youtu.be/L5yH2kCNzuA 

Et la lune descend sur le temple qui fut 

"Und der Mondschein fällt auf den ehemaligen Tempel" entwirft in seinem Titel ein suggestives Bild, das sein Geheimnis auch bewahren sollte, wenn es vor Augen geführt wird…

Debussy      Et la lune descend sur le temple qui fut

YouTube      https://youtu.be/6NbOtZP63P8

Die drei Video-Inszenierungen zu Klavierstücken von Debussy sind 2012 entstanden für ein reines Debussy-Konzert von Tomas Dratva.

Nachbemerkung

Debussys Klavierstücke tragen die meisten Titel, die ganz konkrete Verweise geben. Sie sind aber nicht illustrierend gemeint. Um das deutlich zu machen, liess Debussy sie bei seinen Préludes sozusagen als Fussnoten am Ende drucken. (Dass sie doch als Titel benutzt werden, ist also nicht ganz richtig.)  Dass sie auf Inspirationsquellen verweisen, scheint mir klar. Die Musik selbst benötigt solche Verweis nicht. Aber wenn sie für die Entstehung der Musik keine Rolle gespielt hätten, hätte Debussy sie doch nicht drucken lassen.

14   Bilder einer Ausstellung

Das Paradepferd für bild-inspirierte Musik sind natürlich die „Bilder einer Ausstellung“ von Mussorgsky. Er antwortete damit auf eine Gedenk-Ausstellung für seinen früh verstorbenen Freund, den Künstler und Architekten Thomas Hartmann. Einige seiner Bilder sind erhalten geblieben. Und sind eine Enttäuschung. Sie waren allerdings auch mehr Skizzen und Entwürfe. Doch wer diese Bilder mit der Musik im Ohr ansieht, dem kommt es vor, wie wenn eine Maus einen Elefanten geboren hätte. Sie zur Musik von Mussorgsky zu zeigen, wäre denn auch sinnlos.

Doch nun hat kein Geringerer als Wassily Kandinsky sich der Sache angenommen. Rund 50 Jahre nach der Ausstellung von Hartmann, die Anlass für Mussorgskys Musik war, hat Kandinsky sozusagen den Spiess umgedreht und eigene Bilder zu Mussorgskys Musik geschaffen. Sie dienten als Grundlage für eine Bühnen-Inszenierung, die 1928 in Dessau stattfand. Was damals mit den Mitteln der Bühne umgesetzt wurde, habe ich mit heutiger Videotechnik rekonstruiert.

Mussorgsky/Kandinsky     Bilder einer Ausstellung

YouTube                            https://youtu.be/H9dJJ7_3nrk

Wer es genauer wissen will:

Es ist etwas kompliziert. Die Aquarelle von Kandinsky zu den "Bildern einer Ausstellung" sind seine Vorbereitungen zur Bühnen-Inszenierung. Nach ihnen wurden die Bühnen-Elemente hergestellt, die dann nach seinen Vorstellungen auf der Bühne bewegt und beleuchtet wurden. So entstand jedes Aquarell zum Verlauf der Musik schrittweise als Bühnenbild vor den Augen des Publikums. Durch diesen zeitlichen Ablauf eröffnet sich der bildenden Kunst etwas, was ihr zuvor fremd war: nämlich die Gestaltung des zeitlichen Verlaufs - und damit eine  Annäherung an die Musik, in der die Gestaltung der Zeit zentral ist. 

Es gibt aber nicht für alle Stücke so ein Aquarell. Gleich für das erste Stück musste sich Kandinsky etwas Eigenes einfallen lassen. Denn zu den „Promenaden“ vom einen Bild zum nächsten gibt es natürlich gar kein Bild von Hartmann. Da hat Kandinsky nur beschrieben, was zu sehen sein soll. Was ihm vorschwebte, das nannte er „abstrakte Bühnensynthese“. Damit meinte er „reine“ – nämlich eben „nicht abbildende“ - Formen, Farben, Licht und Bewegungen im Raum einer Bühne. Das ist sozusagen eine Verselbständigung dessen, was normalerweise als „Bühnenbild“ auf dem Theater zu sehen ist – dann aber als Rahmen für eine Bühnenhandlung. Dort hat es „dienende“ Funktion, indem es den Raum für das Geschehen auf der Bühne gestaltet. Kandinsky befreit mit seiner „abstrakten Bühnensynthese“ also gewissermassen das Bühnenbild zu einer eigenständigen Kunstform. Das konnte er 1928 am Friedrich-Theater in Dessau zum ersten und einzigen Mal realisieren.

Um das zu rekonstruieren, würden die erhaltenen Vorbereitungen von Kandinsky allein aber nicht genügen. Denn vieles wurde erst bei den Bühnenproben entschieden. Wir sind nun aber in der glücklichen Lage, dass es ein Regiebuch von Felix Klee gibt, dem Sohn des Malers Paul Klee. Felix Klee war als Regie-Assistent von Kandinsky 1928 in Dessau dabei. Er hat in einer Ausgabe der originalen Klavier-Fassung, die mit Leerseiten durchschossen ist, genau aufgeschrieben, was wann zu geschehen hatte. Darum können wir heute tatsächlich taktgenau wissen, was damals auf der Bühne geschah.              

Das habe ich nun statt mit den Mitteln der Bühne mit einer digitalen Video-Animation realisiert. Zu sehen sind die originalen Aquarelle von Kandinsky. Ich habe sie videotechnisch sozusagen „seziert“, damit sie sich aus ihren Elementen ganz nach Kandinskys Anweisungen schrittweise zusammenzufügen lassen. Doch was zeigen, wo es kein Aquarell von Kandinsky gibt? Zur Anfangs-Promenade schreibt er nur: "ein Kreis von 2m Durchmesser, das Rot ist zinnoberartig".  Es gibt eine computergrafische Realisation, die auch alle Aquarelle von Kandinsky computergrafisch nachbildet, und dort ist dieser Kreis einfach flach rot. Und damit steril wie die ganze Rekonstruktion. Wenn man die originalen Aquarelle verwendet, die gerade wegen ihres Entwurfcharakters eine eigene Lebendigkeit haben, wäre das ein Stilbruch. Auch wo es kein Aquarell von Kandinsky gibt, sollten darum alle Farben gewissermassen die „Handschrift“ von Kandinsky haben. Für den roten Kreis verwende ich das Rot aus dem Gemälde „Roter Fleck II“. Dieses ist in sich in verschiedenen Tönungen strukturiert. Das macht aus dem flachen roten Kreis eine scheinbar dreidimensionale Kugel. Auch wenn der rote Kreis sich in der zweiten Promenade in einen blauen Kreis verwandelt, und wenn gelbe Punkte Kücken imitieren, stammen diese Farben aus einem Kandinsky-Werk. Und die Kaleidoskop-Bilder, die Kandinsky für „Tuilerien“ vorschreibt, sind durch ein Kaleidoskop gesehene Gemälde von Kandinsky. Alles was man sieht, ist also original Kandinsky: Die Bilder selbst, die Farben, aber auch was genau in welchem Takt der Musik davon sichtbar werden soll, wie es sich bewegt, zusammenfügt, wieder abbaut und wie es schliesslich verschwindet.

Mein "Kandinsky-Remake" entstand 2008 für eine Aufführung in der Zürcher Tonhalle durch das Symphonische Orchester Zürich geleitet von Christof Escher. Seither wurde es von verschiedenen Pianisten und Orchestern in der Schweiz und Deutschland so oft aufgeführt wie keine andere meiner Video-Inszenierungen. Und auch auf YouTube ist das mein absoluter Spitzenreiter - Kandinsky sei Dank!

15   Aus der Neuen Welt - 1. Satz

Zuerst muss ich diesmal etwas ausholen:

Die Sinfonie «Aus der Neuen Welt» von Dvorak kommt wirklich aus Amerika. Er wurde nämlich 1891 als Direktor an das Konservatorium in New York berufen. Sein Sekretär berichtet, dass Dvorak den Titel «Aus der Neuen Welt» erst im letzten Moment wie einen Postkartengruss auf die Partitur schrieb. Das sei ein kleiner Spass von Dvorak gewesen. Daran darf gezweifelt werden. Dvoraks Sinfonie wurde nämlich als erste "amerikanische" Sinfonie mit Spannung erwartet und war ein Ereignis wie später zum Beispiel eine neue Platte der Beatles. Vor der Uraufführung erschienen in den grossen amerikanischen Zeitungen zwei verschiedene Interviews, in denen Dvorak sagte, der zweite Satz der Sinfonie sei eine Studie für eine Kantate oder Oper, die er schreiben wolle und die auf Longfellows «Hiawatha» beruhe. Heute sagt uns das kaum mehr viel, damals aber war es allen klar: also sozusagen eine Bestseller-Verfilmung – bzw. -Vertonung. In seinem Versepos „Der Sang von Hiawatha“ hatte Henry Wadsworth Longfellow versucht, Amerika quasi ein eigenes Nibelungenlied zu bescheren, indem er die zahlreichen mündlich überlieferten Mythen der nordamerikanischen Ureinwohner in einem „Hiawatha-Mythos“ zusammenzufasste. Damit landete er 1855 einen Bestseller. Auch Dvorak hatte eine tschechische Übersetzung bereits in Prag gelesen.

Ist also Dvoraks Sinfonie "Aus der Neuen Welt" eigentlich eine "Indianer"-Sinfonie ? - Dann wäre ein junger Zürcher der passende Kronzeuge:

Karl Bodmer, 1809 in der Zeit der Napoleonischen Kriege im Zürcher Niederdorf geboren. Mit 19 Jahren zog er nach Koblenz. Dort machte er Aquarelle und Tuschzeichnungen von «malerischen Ansichten», die gedruckt und koloriert an wohlhabende Touristen verkauft wurden – als Vorläufer der späteren Ansichtskarten. Dadurch wurde Prinz Maximilian, kurz: Max zu Wied auf Bodmer aufmerksam.

Als dieser 1832 eine dreijährige Forschungsreise nach Nord-Amerika unternahm, engagierte er Karl Bodmer als Jäger und wissenschaftlichen Zeichner, also gewissermassen als «Fotografen» - was es damals ja noch nicht gab. Der 23-Jährige sollte die abenteuerliche Reise in noch unerforschte Gebiete wissenschaftlich exakt in seinen Bildern dokumentieren. Der Prinz hätte gerne einen bekannten Maler mitgenommen, nur: irgendwo musste er ja sparen. Karl Bodmer aber packte seine Chance.

Heute besitzt das Joslyn Art Museum in Omaha (Nebraska) 386 Zeichnungen und Aquarelle von ihm. Sie zeigen den wilden Westen, wie er wirklich war und gehören zu den wichtigsten Dokumenten über die untergegangenen indigenen Kulturen in den Grat Plains am Missouri River. Das Museum hütet seinen Schatz. Kein Aquarell und keine Zeichnung wird für Ausstellungen ausgeliehen. Kein Wunder bei Versicherungssummen von einer Million pro Bild! Denn das sind die Originale. Verhältnismässig weit verbreitet, wenn auch teuer, waren die kolorierten Stiche, die nach den Aquarellen hergestellt wurden. Das 2-bändige Werk „Reise in das innere Nord-America in den Jahren 1832 – 1834“ (erschienen in Einzellieferungen zwischen 1837 und 1842) von Prinz Max zu Wied gilt wegen der 81 Bodmer-Illustrationen als Meilenstein in der Geschichte des Buchdrucks.

Zum ersten Satz der Sinfonie "Aus der Neuen Welt" von Dvorak zeigen Bodmers Bilder, wie er die Anreise und lange Suche nach den ersten "Indianern" dokumentiert hat.

Dvorak / Bodmer         Aus der Neuen Welt   1. Satz

YouTube

16   Aus der Neuen Welt - 2. Satz

Das Largo der Sinfonie ist nach der Aussage Dvoraks von «Hiawathas Werbung», dem 10. Kapitel von Longfellows Epos inspiriert.

Zum Verständnis, worum es da geht, muss man wissen: Hiawatha ist der Sohn des Westwinds. Er fordert Rechenschaft von seinem Vater, der die Mutter verlassen hatte. Der Kampf geht unentschieden aus. Vater Westwind verspricht, sein Reich mit Sohn Hiawatha zu teilen, wenn es ihm gelinge, die Indianerstämme in Frieden zu einen. Das besagte 10. Kapitel beginnt mit den Zeilen:

    „Wie die Bogenschnur zum Bogen,

     So gehört das Weib zum Manne;

     Ob sie ihn auch biegt, sie dient ihm,

     Ob sie ihn auch spannt, doch folgt sie;

     Keines nütz, fehlt ihm das andre!“         X, 1-5

    „Nimm ein Mädchen deines Volkes“, rät die Grossmutter Hiawatha.

    „Wie ein Feuer auf dem Herdstein

     Ist des Nachbars traute Tochter,

     Wie das Sternlicht, wie das Mondlicht

     Ist die Wackerste der Fremden!“                  X, 17-20

Doch Hiawatha lässt sich nicht beeindrucken. Im Lande der Dakotas hat er die Tochter des Pfeilemachers gesehen, Minnehaha – was „Lachend Wasser“ bedeutet. Er antwortet der Grossmutter:

    „Wenn aus keinem Grund, aus diesem

    Möchte’ ich frein mir die Dacotah,

    Dass sich unsre Stämme einten,

    Dass der Fehden wir vergässen,

    Dass die Wunden sich verschlössen,

    Harsch und heil für alle Zeiten.“            X, 51-57

Der alte Pfeilemacher ist einverstanden, Hiawatha seine Tochter zur Frau zu geben, unter der Bedingung, dass das auch des Mädchens Wunsch ist. Und das ist es. Hand in Hand machen sich die beiden durch das Waldland und die Wiesen auf den Weg zurück in Hiawathas Heimatland. Diese Heimreise schildert Dvorak nun in seinem Largo. Und Karl Bodmer hilft ihm dabei.

VIDEO            Aus der Neuen Welt   2. Satz

YouTube

17   Aus der Neuen Welt - 3. Satz

Zum dritten Satz seiner Sinfonie "Aus der Neuen Welt" sagte Dvorak im bereits zitierten Zeitungsarikel:

   "Das Scherzo der Sinfonie wurde angeregt durch die Szene am Fest in „Hiawatha“, wo die Indianer tanzen, (...)

Gemeint ist Hiawathas Hochzeit. Im kontrastierenden Mittelteil des Scherzos erinnern die vielen Triller stark an Vogelrufe. Dvorak war ein grosser Vogel-Freund und hielt selbst sein Leben lang Tauben. In meiner Video-Inszenierung des 3. Satzes halte ich mich allerdings an die Tänze der Indianer.

VIDEO           Aus der Neuen Welt   3. Satz

YouTube        

Was Bodmer geleistet hat, geht weit über den Auftrag des Prinzen hinaus, der da war: Land und Leute und auch Flora und Fauna mit grösstmöglicher Genauigkeit im Bild zu dokumentieren. Seine Bilder aus Amerika gehören zu den besten Aquarellen des 19. Jahrhunderts. Sie sind nicht nur dokumentarisch genau, es sind lebensechte ausdrucksstarke Portraits der dargestellten Menschen und stimmungsvolle Ansichten der bereisten Gebiete. Dabei sind die originalen Aquarelle den kolorierten Stichen natürlich an Feinheiten überlegen. Glücklicherweise hat das Joslyn Art Museum diese in einem aufwändigen Kunstdruck-Band 1984 veröffentlicht. Er ist vergriffen, aber dank Internet-Suche konnte ich antiquarisch ein leicht beschädigtes Exemplar aus Amerika bekommen, das eine Bibliothek dort ausgeschieden hat.

Nachbemerkung:

Nun wäre natürlich der 4. Satz von Dvoraks Sinfonie zu erwarten. Kommt aber nicht. Ich habe ihn nicht visuell inszeniert, weil weitere Bilder von Karl Bodmer wiederholend wirken würden. In einer Konzert-Aufführung übernähme nun die Musik allein das Zepter und käme voll zu ihrem Recht: über das Gesehene hinauszuführen. Denn natürlich ist die Sinfonie "Aus der Neuen Welt" weit mehr als eine "Indianer"-Sinfonie.

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