spirkart
REISEN
2013 LITAUEN - LETTLAND 25.04 - 06.05.
54 Vilnius
01-5685
Osteuropa scheint mir einen Vorzug zu haben, der gerade aus dem jahrzehntelangen Hintertreffen resultiert. Es hat Relikte der Vergangenheit bewahrt, die wegen der misslichen Verhältnisse überstanden haben.
02-5642
Viele werden verschwinden, sobald sich das finanzieren lässt. Aber es zeigen sich Chancen, dass sanft und stilvoll renoviert wird, was sich (um)nutzen lässt.
03-5701
Warum aber haben die alten Mauern auf mich eine so verzaubernde Magie? Nur zum Teil sind sie so aussagekräftig gestaltet. Vieles war zu ihrer Zeit einfach üblich. Wirklich bautechnisch Schlechtes hat wohl kaum überlebt. Aber es geht nicht um technische und ästhetische Qualität allein.
04-5703
Kopfsteinpflaster ist uneben, holperig, anfällig und in entsprechendem Zustand. Aber es hat eine Anmutung. Nur darum, weil in meiner Jugend in St. Gallen das Kopfsteinpflaster vielerorts am Verschwinden war?
05-5747
Sicher hat die Ausstrahlung alter Bauten mit Zeit zu tun. Sie ist ihnen zugewachsen und hat ihnen eine zusätzliche Qualität verliehen, die Neues erst haben kann, wenn es alt geworden ist.
06-5763
Es ist das die "Erfahrung der Steine". Mir scheint, sie haben etwas mitbekommen vom Geschehen um sie herum. Das allein aber bewirkte letztlich nur ihren Zerfall.
07-5720
Auch solche Orte gibt es hier: einen vielversprechenden Kirchturm, der sich als mit Brettern verschlossene Ruine entpuppt,
08-5729
ein zur Sicherung eingezäuntes Lagerhaus mit Videoüberwachung (wenn man den angebrachten Tafeln glauben soll), durch dessen Dachrand man zum Himmel sieht. Das allein wäre nur arme Trostlosigkeit.
09-5683
Aus dem Alten etwas machen, es am Leben erhalten oder besser ihm neues Leben einhauchen, das macht es erst aus. Dann ergibt sich ein "Stirb und werde", das ein Spiegel des ganzen Lebens ist. Reine Neubauten sind immer naiv. Sie glauben nur ans Sein.
10-5752
Vergehen und Werden zeigen sich im Alten, das neu belebt wiederersteht. Dafür genügt es schon, dass Altes weiterhin bewohnt wird.
25.04.13.
56 "Haus des Schreckens"
Im Keller des stattlichen Hauses an der Auku gatve 2a gleich neben der Prachtseinkaufsstrasse von Vilnius sind die Gefängniszellen des KGB so erhalten, wie sie 1993 verlassen wurden. Metallpritschen - wenn überhaupt etwas - in trostlosen dicken Kellermauern. Und dann ein Verlies ohne das kleinste Fenster. Es geht also noch schlimmer. Lautsprecher in den Zellen der 50er-Jahre. Bakelit-Telefone ohne Wählscheibe in Mauer-Vertiefungen im Gang. Die banalen Dinge sind fast noch schlimmer als die Exekutionszelle mit den leeren Schlarpen auf dem Sandboden und den Schädeln mit Einschlaglöchern. Die eingefrorenen Gesichter von zwei fotografierten toten Opfern in ihren Särgen: illusionslos, gezeichnet, aber nicht gebrochen, eher befreit von einer grossen Last. Was diese ausgetretenen steinernen Treppenstufen, das handwerklich schön gestaltete schmiedene Treppengeländer und das Maschendrahtnetz am Geländer hinauf bis ganz oben im Treppen-Schacht (damit sich keiner hinunterstürzen konnte) alles erlebt haben, ist nicht vorstellbar. Denn die Vorstellung wäre nicht auszuhalten. Die Täter schalteten sie einfach aus. Einige Tränen sind das Mindeste, was diese armen Opfer von Menschen verdient haben. Was kann ich ihnen anderes geben als mein Mitgefühl. Lieber würde ich gar kein Mensch sein.
27.04.13.
55 Schön leben
11-5793
Heute waren wir in Trakai. Von der Burg aus sieht man am gegenüberliegenden Ufer wie eine Erscheinung ein schneeweisses Prachtshaus.
12-5848
Es entpuppte sich als ehemaliges Herrenhaus eines polnischen Grafen
13-5904
mit riesigem Park voller Statuen,
14-5902
Pavillons, Teiche, mit Aussichts-Terrasse über den See
15-5908
- beliebt bei Brautpaaren als Ort für den Fototermin.
16-5905
Gleich drei Paare mussten fotografisch und videotisch aneinander vorbei kommen. Das Schloss selbst mit einer Gemäldesammlung war leider bereits geschlossen.
17-5901
Es wird mit EU-Hilfe wieder in seinen früheren Zustand zurückversetzt. Denn manche Teiche sind verlandet oder zugeschüttet, der Wasserfall existiert nicht mehr und die vielen Pflanzen und Blumen sind ohne Pflege verschwunden. Wenn das wieder einmal sein wird, wie es war, dann ist es ein Paradies auf Erden!
18-5910
Ich frage mich immer, ob die Besitzer solcher Prachtswohnsitze diese ebenso schätzen konnten, wie sie mich beeindrucken und erfreuen.
19-5915
Denn für sie wird das unvermeidlich Alltag. Und entscheidend für ein gutes Leben sind innere Anlagen, nicht äusserlicher Besitz.
20-5922
Graf Tyszkiewicz, der solche reiche Schönheit erbauen und landschafts-architektonisch gestalten liess, hat sie wohl als sein Werk erlebt.
21-5919
Auch wenn manche Idee und die ganze Verwirklichung das Werk seines Architekten Édouard André waren.
22-5925
Wer das fertige "Paradies" erbt, hat jedoch keinen Anteil daran. Ob er sich darin verloren oder aufgehoben fühlt, hängt ganz von seinem Wesen ab.
23-5943
26.04.13.
57 Signalisation
Auf der Rückfahrt von Trakai nach Vilnius finden wir uns nach einer Stunde schliesslich wieder auf dem Weg nach Trakai. Die richtige Einfahrt zur Altstadt ist einfach nicht zu finden. Wir stranden vor einem alten Fabrikareal. Dort steht ein Auto mit offener Tür: ein junges Paar am Rauchen. Sie erklären mir den Weg in die Stadt. Der Anfang ist klar. Aber dann - fragen Sie am besten wieder. Doch nach einem kurzen Wortwechsel anerbieten die beiden, dass sie selbst in die Stadt fahren und uns den Weg zeigen. Wir sind fast eine halbe Stunde unterwegs und hätten den Weg allein nicht gefunden. Immer wieder muss man einfach wissen, welche Strasse die richtige ist - angeschrieben ist nichts. Schliesslich sind wir mitten in der Stadt. Die 10 Litas, die ich unserem Retter geben will, nimmt er ganz entschieden nicht an und wünscht schöne Ferien.
26.04.13.
59 Zeiten
24-6038
Die finnisch anmutenden Holzhäuser in Druskininkai, wo die Eltern von Ciurlionis wohnten, er aufgewachsen ist und sein Arbeitszimmer hatte.
25-6039
Decken wie im alten Bauernhaus in Kesswil, die Einrichtung der Zimmer wie bei der Grossmutter in Mels, nur reicher. Es ist die gleiche Zeit etwa und nicht überraschend.
27-5965
Doch wenn man von seiner aussergewöhnlichen Kunst ausgeht, erwarte ich trotzdem nicht so das Gewöhnliche. Es bildet einen Hintergrund, vor dem sich das Werk umso prägnanter abhebt.
28-6040
Hier ist die Zeit stillgestanden.
29-6068
Seine Werke aber sind mit der vergangenen Zeit mitgewachsen und reichen aus ihrer Zeit über die Zeit hinaus.
30-6078
28.04.13.
60 Kan nit verstan
Wenn Museumswärterinnen keine Sprache so können, dass sie uns wirklich verstehen, macht das die Verständigung auf eine Art intensiver. Um das Nötige klar zu machen, strengen beide Seiten sich an. Das führt zu komischen Misserfolgen, und Lachen hilft weiter. Differenzierteres ist nicht möglich, Einfaches aber bringt einen einander näher, als wenn man sich sogleich verstehen würde.
28.04.13.
61 Die Kinder in Litauen
sind auffällig.
31-5854
Auffällig ruhig und entspannt. Mehrmals ist mir aufgefallen, wie liebevoll ein Kind (Bub und Mädchen) sein kleineres Geschwister anstrahlt. Oder das Mädchen, das aufmerksam in sich ruhend andere Kinder beobachtet.
32-6043
Selbst im Restaurant der Waterworld in Druskininkai sind Familien mit Kindern eine ruhige Gruppe. Das wirkt gar nicht wie ein Resultat strenger Erziehung. Es scheint, dass die Eltern ihren Kindern eine natürliche Selbstverständlichkeit mitgeben können. Das lässt sie sich selbst werden, ohne dass sie auf sich aufmerksam machen müssen. (Sicher nicht in jedem Fall...)
30.04.13.
62 Rundale
33-6367
Das prächtige Schloss mit seinem grossen Blumen-Park (im Sommer) macht Versailles Konkurrenz.
34-6205
35-6270
36-6273
37-6285
38-6297
Einzigartig macht es jedoch für mich, dass seine Räume nicht nur reich und geschmackvoll ausgestattet sind, sondern auch wohnlich wirken, ohne die bleierne Last vom Staub vergangener Zeiten - wie sonst in solchen Schlössern üblich.
39-6244
Hier kann die Museumswächterin etwas Englisch und geht auf Margrit zu. In Druskininkai konnte selbst die Museumsleiterin keine westlichen Fremdsprachen.
30.04.13.
63 Wunderstadt Riga
40-6641
41-6460
42-6415
43-6600
Ganz anders als Vilnius. Eine richtige Grossstadt mit entsprechendem Flair und Lebensgefühl.
44-6725
45-6698
46-6602
47-6719
Die Bewohner gewandt und geübt im Umgang mit Besuchern. Litauer daneben ländlich zurückhaltend. Der Vergleich macht das deutlicher. Mir ist beides sympathisch.
Riga 30.04.13.
64 Orgelkonzert
48-6545
49-6546/7
50-6728
Habe gerade in Riga ein Konzert im Dom gehört mit Orgel und Violine: Gegenüberstellung von Couperin und Ravel. Tombeau pour Couperin als Pfeiler, dazwischen Stücke von Couperin und die Violinsonate in einem Satz von Ravel.
51-6732
Erstaunlich kompromissloses Programm - und das für einen sehr gut besuchten Dom mit vielen Touristen. Die Orgel ist erstaunlich: habe noch nie ein so gut durchhörbares Instrument gehört. Darauf kann man wirklich Klavierwerke spielen (bearbeitet natürlich).
01.05.13.
65 Grosse Namen
Lettland bürgert fremdsprachige Künstler ohne Umschweife ein. Ihre Namen werden so geschrieben, dass die Aussprache im Lettischen stimmt. Beispiele: Elton Dzohn, J. Brāmss, sogar Richard Vāgnera (er lebte zwei Jahre hier).
Beweist das Selbstbewusstsein oder Angst, dass die Namen sonst falsch ausgesprochen würden? Es ist jedenfalls das Gegenteil der englischen (?) Haltung, wie Peter Brook sie mir demonstrierte, als ich ihn fragte, wie man den indischen Namen einer Gestalt aus dem Mahabharata ausspreche. Doesn't matter, as you like - as long as one understands what you mean. Schon die Frage überraschte ihn.
Riga 02.05.13.
66 Jugendstil
galt einst als veraltet. Das Verschnörkelte und die stilisierten Gestalten waren restlos von gestern, ja vorgestern.
52-6418
53-6430
54-6431
55-6590
Heute erfreuen sie das Auge und geben Riga ein einmaliges Flair. Die "Schnörkel" sind elegant, die Figuren menschlich und oft erotisch. Grosse Gebäude erhalten so ein erfreuliches Antlitz und menschliches Mass.
Riga 02.05.13.
67 Zimmerwechsel
Die Blase weckt mich. Schlaftrunken weiss ich sofort, wo wir sind. Und das ist die Türe zum Bad. Nur dass dahinter die Kleidung hängt, passt nicht.
Klaipeda 03.05.13.
68 Drei Städte
Vilnius - Klaipeda - Kaunas. Die drei grössten Städte von Litauen sind ganz verschieden.
56-6846
Die Hafenstadt Klaipeda ist eine Umschlagstadt mit grossem Hafengelände,
einer Altstadt, wo sich heruntergekommene Fassaden neben neu-schick aufgemachten Lokalen in ganz verschiedener Preisklasse begegnen,
57-6858
58-6862
und einem neueren Teil, der etwas ausgestorben wirkt.
59-5636
Vilnius ist eine Stadt mit stolzer Vergangenheit, die trotz ihrer Grösse kleinstädtisch wirkt.
60-5693
Altes im Zerfall steht neben Altem, das neu ersteht - und grosse Satellitenquartiere greifen weit in die Umgebung hinaus.
Kaunas wirkt daneben internationaler, relativ weltgewandter und grösser als es tatsächlich ist.
61-7101
62-7170
63-7066
Abends auch geprägt von einem jugendlich pulsierenden Nachtleben.
64-7222
Kaunas 05.05.13.
69 Kartoffeln im Gestrüpp
65-6787
Arturas, der Sohn von Algis, dem Manager des Orchesters von Kaunas, ist Tennislehrer. Er sagt, dass Litauen seit der Unabhängigkeit, also innert gut 20 Jahren, durch Auswanderung fast eine halbe Million Einwohner verloren habe. Tatsächlich findet man abseits der Durchgangsstrassen kaum menschliches Leben. Sondern verlassene Häuser, Gehöfte, wo vielleicht noch ein Gebäude als Ferienhaus notdürftig instand gehalten ist. Und Haufen von Kartoffeln und Randen, die im Gewucher zwischen dem Sandstrand und den ehemaligen Feldern liegen und jetzt langsam ausschlagen.
66-6795
Kaunas 05.05.13.
70 Zwei Frauen
Eine junge Frau mit keck kupfergefärbtem Haar steigt aus ihrem Skoda. Aus den modisch aufgerissenen Jeans sind ihre nackten Knie zu sehen. Ihr entgegen kommt eine behäbige Frau in Strassenfeger-Montur mit Handschuhen, Kessel und grünem Besen. Sie fischt aus den Vertiefungen des Kopfsteinpflasters einzelne Zigarettenkippen und befördert sie mit Hilfe einer langstieligen Schaufel in den Kessel.
Kaunas 06.05.13.
71 Abgrund der Menschlichkeit
67-5960
Das Museum des Holocaust in Vilnius zeigt in einem ersten Raum die jüdische Gemeinde vor dem Massenmorden. (Jascha Heifetz kam aus Vilnius.) Dann folgt die Errichtung und Verwaltung des Ghettos, die Judenräte zwischen Hammer und Amboss,
68-7239
die Obermörder mit dem süffisant-seifigen Lächeln,
69-7243
die hilflosen Opfer und die Widerstandskämpfer.
70-7240
Sie alle bekommen Namen, Gesichter und eine kurze Biographie. Man könnte sich stundenlang darin vertiefen. Wir haben nur eine halbe Stunde Zeit, dann müssen wir den Weg zum Flugplatz finden. Ich hätte auch nicht die Kraft, mich darauf ganz einzulassen. Kann alles Gute, Wahre und Schöne, das die Menschen zu schaffen imstande waren, diesen menschlichen Abgrund aufwiegen? Der Mensch ist ein Fehltritt der Natur. Je früher er ausstirbt, desto besser.
Noch so gerne würde ich mich vom Gegenteil überzeugen lassen. Doch wer hat die Argumente, die gegen diese Unmenschlichkeit bestehen können? Die eben eine Menschlichkeit ist! Eine unfassbar teuflische Möglichkeit des Menschen. Jeder Vergleich mit einem Tier verbietet sich kategorisch.
Vilnius 06.05.13.



