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86 Geologie des Charakters



"Hans Ricke aus Hamburg, ein Mensch, in dessen Wesen Arroganz und Güte, Berechnung und Hilfsbereitschaft, Hochstaplertum und ehrliche Liebenswürdigkeit auf unbegreifliche Weise zusammengingen..."

Das schreibt Johannes Bobrowski über einen Mann, der in den vier Jahren seiner russischen Kriegsgefangenschaft für ihn eine besondere Rolle spielte. Erweist sich nur in solchen Extremsituationen, wer jemand wirklich ist? Würde ein und derselbe Mensch auch unter "zivilisierten" Umständen solche Widersprüche offenbaren? Wohl nur bei vergleichbar engem Miteinander, wie es die Gefangenschaft erzwingt. Charakter ist keine einfache Eigenschaft eines Menschen. Er setzt sich aus Schichten zusammen, die allmählich entstanden sind. Die unterste ist wohl vererbt. Darüber lagern sich erworbene, gelernte Schichten. Diese bestimmen das Verhalten unter "Normalbedingungen". Aber sie stehen in einem ständigen Spannungsverhältnis zu den tieferen Schichten. Das heisst nicht, dass sich unter Extrembedingungen die tiefste, ursprünglichste Schicht zwingend durchsetzt. Man soll den Menschen nicht einfacher machen, als er ist. Spätere Schichten sind nicht unbedingt schwächer als frühere. Extrembedingungen sind wie Erdbeben. Sie bringen die Schichten in Schwingung und mischen sie durcheinander. Könnte es sein, dass unsere Sympathie und Antipathie von einer Ahnung der Charakterschichtung eines Menschen bestimmt ist?


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