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162 Der Schnitzler


Eine Instant-Sage von der Axalp

(Es ist keine Kunst, aus üblichen Sagen-Motiven eine „eigene“ Sage zu „erfinden“. Denn sie ist weder erfunden noch eigen, sondern gefunden und traditionell. Auch dass alle genannten Orte ebenso existieren wie der Schnitzlerweg auf der Axalp mit seinen Holzschnitzereien, entspricht ganz der Sagen-Tradition:)


Nach dem grossen Unwetter war der Weg zum Hinterburgseeli zerstört. Zersplitterte Baumstämme und gespenstische Wurzelstöcke stachen in die Luft. Viel Arbeit für die Holzer. Einer von ihnen aber, der Bruder des Schnitzlers, sah in der Zerstörung eine Chance. Er schlug vor, die wie Zündhölzer gebrochenen Bäume, deren Wurzelstöcke heil im Boden geblieben waren, in 1 bis 2 Meter Höhe abzusägen und diese gekappten Stämme für Schnitzarbeiten zu nutzen. So würde die vielfältige Bergflanke von Holzskulpturen bevölkert, die aus dem Boden gewachsen scheinen. Der Vorschlag wurde von allen begrüsst, am meisten aber vom Schnitzler selbst. Alle nannten ihn so, kaum einer kannte noch seinen richtigen Namen. Seine Holz-Portraits waren legendär. Denn sie stellten nicht irgendwelche typischen Gestalten dar: den Hirtenknaben, den erfahrenen Senn, die züchtige Magd. Sondern sie waren lebensechte, charaktervolle, echte Portraits, die einen so anblickten, dass man überrascht zurückschaute.


Nachdem die meisten Spuren der Verwüstung getilgt waren (ein paar liess man zur Erinnerung bestehen), wuchsen unter den kunstgerecht das unnötige Holz entfernenden Schnitzmessern in den folgenden Wochen neben den bereits genannten Gestalten auch viele Tiere aus den Baumstämmen hervor: Wolf, Fuchs, Bär, Wildschwein, Eichhörnchen, Gämse, Kuh... Am meisten Stämme wusste sich der Schnitzler anzueignen. Kaum hatte er wieder eines seiner Portraits begonnen, war es auch schon fertig. Und das in einer Zeit, die jedem andern nicht genügt hätte, auch nur das Holz wegzuschneiden, geschweige denn diese Ähnlichkeit und den charakteristischen Ausdruck zu treffen. Da seine Portraits keinen parodistischen oder gar karikaturistisch übertreibenden Zug hatten, sondern durchweg wohlmeinende Charakterstudien waren, fühlten sich alle geehrt, die sich plötzlich im locker gewordenen Wald dargestellt fanden.


Nur einer wollte sich dort nicht begegnen: der Förster Franz Fuchs. Sei es, dass das eine fast tägliche Selbstbegegnung bedeutet hätte, sei es, dass er nicht auf einen momentanen Ausdruck festgelegt werden wollte, so treffend dieser auch sei. Er glaubte wohl, dass er nicht nur mehrere Gesichter habe, sondern auch noch weitere entwickeln werde. Jedenfalls verbat er es sich, und verbot es dem Schnitzler, ihn in seine hölzerne Galerie aufzunehmen. Nicht gewohnt, dass ihm jemand in seiner Kunst Vorschriften machte, reizte dieses Verbot den Schnitzler erst recht, den Förster in einem Werk zu verewigen, das unter all seinen bewunderten Portraits in Holz das Meisterwerk werden sollte. Und schon war wieder ein Baumstamm in den geschickten und geschwinden Händen des Schnitzlers.


Man hatte es versäumt, zu Beginn die Verteilung der geeigneten Stämme zu regeln, sodass jeder sich selbst einen passenden Baumstumpf auswählte. Weil aber alle anderen viel langsamer vorankamen, hatte der Schnitzler sich weitaus am meisten Bäume angeeignet. Dass es nun schon wieder ein weiterer war, wurde mit einer Mischung aus Neid und Bewunderung registriert. Was das neuste Werk werden sollte, konnten die neugierigen Beobachter aber noch nicht erkennen. Man sah den Schnitzler auch nur selten an der Arbeit und munkelte, der wolle seine Geheimnisse wohl geheim halten. Wie es zuging, dass er trotzdem so unfassbar schnell vorankam und fertig wurde, war sein am besten gehütetes Geheimnis.


Sobald der Mond hell genug schien, machte er sich nachts auf zum Berghang. Am Tag hatte er dem Holz die groben Formen eingeprägt. Den alles bestimmenden Feinschliff konnte er ihm aber nur im nächtlichen Mondlicht verpassen. Das schimmernd reflektierte Licht des Mondes liess kein genaues Erkennen zu. Traumwandlerisch führte der Schnitzler sein Messer über das hölzerne Antlitz - und Ausdruck und Charakter wuchsen daraus hervor. Geheim halten musste er eigentlich nichts, denn er hätte gar nichts verraten können. Er wusste selbst nicht, wie - nur dass es im Mondlicht geschehen musste. Hätte er das verraten, wäre er bloss als mondsüchtig verlacht worden. Wie hätte auch jemand verstehen sollen, dass dadurch, dass das Mondlicht die einzelnen Messerspuren verwischte, die erzielte Wirkung nur umso deutlicher hervortrat. Sobald der Mond unterging oder eine Nachtwolke sein Licht abfing, war es mit der Arbeit vorbei. Obwohl der Himmel wolkenlos schien, geriet in jener Nacht, als der Schnitzler sein Meisterwerk hervorzaubern wollte, schon bald eine Wolke zwischen den Mond und seine Hände mit dem Messer. Ärgerlich trat er den Heimweg an. Als er am Hinterburgseeli vorbei kam, schaute der Mond gerade durch ein plötzliches Wolkenloch. Da sah der Schnitzler in den Frauenmänteli am Boden unzählige Diamanten aufblitzen, kleine und grössere, die auf den sich am Stängelende ausfaltenden Blättern sassen. Schon wollte er danach greifen, da schloss sich das Wolkenloch wieder und alles war schwarz.


Wenigstens war die nächste Nacht wieder eine klare Mondnacht. Diesmal ging der Schnitzler zuerst an den See - und tatsächlich: die Diamanten sassen in den Frauenmänteliblättern wie Tautropfen, die sich dort gesammelt hatten. Er brauchte sie nur zu pflücken. Und er füllte den mitgebrachten Rucksack und dann auch noch seine beiden Hosentaschen. Schwer beladen kam er bei seinem werdenden Meisterwerk an. Nun musste er die verbleibende Mondzeit doppelt nutzen. Sofort setzte er das Messer an. Da schien das Holz des Baumes zu zittern, wie wenn es lebendig würde, und der Schnitzler spürte, wie ihm das Wasser aus den Hosentaschen die Beine hinunterlief. Darauf konnte er jetzt nicht achten. Immerhin war ihm leichter. Und wieder setzte er traumwandlerisch das Messer an. Nun aber grollte der Baum. Was als ein gefährliches leises Knurren anfing, wuchs schnell an zu einen immer lauteren Rollen, das sich plötzlich in einem lauten Donnerschlag entlud. Der Blitz hatte in den Baum eingeschlagen und für Sekunden die ganze Landschaft überhell erleuchtet. Dann sank alles in totale Dunkelheit, kein Mondlicht mehr weit und breit.


Viele fürchteten schon wieder grosse Verwüstungen, als aus dieser friedlichen Mondnacht plötzlich ein unheimliches Unwetter hervorzubrechen begann. Doch nach dem grossen Blitz, den einige in wilder Zackenlinie vom Himmel fahren sahen, war alles schon vorbei - nur der Mond blieb verschwunden. Und der Schnitzler. Niemand sah ihn mehr, und das angefangene Werk blieb unfertig. Es gab einige, die in den Zügen des Holzes den Förster zu erkennen glaubten. Aber sicher war das nicht.


Ein Jahr war vergangen, der Schnee endlich auch auf dieser Höhe zum grössten Teil geschmolzen, und man konnte nachsehen, wie die Holzfiguren im Berghang den Winter überstanden hatten. Wie staunten aber die anderen Schnitzler, als sie das unvollendet gelassene letzte Werk des Schnitzlers wieder sahen! Es schaute sie an, vollendet und so lebendig, dass es alles andere übertraf, was der Schnitzler je geschaffen hatte. Der Förster stand sprachlos davor. Wer ihn da aus dem Stamm ansah, als würde er ihn gleich ansprechen - das war, wie er leibte und lebte, der Schnitzler selbst.


Jahre später wird man sehen, wie die Holzfiguren am Berghang langsam verwittern. Die einst klaren Linien werden allmählich verschwimmen. Die einen Figuren verlieren dadurch ihre Prägnanz. Andere gewinnen geheimnisvoll dazu. Alle werden schliesslich nur noch eine Ahnung dessen sein, was sie einst waren. Die Natur nimmt sie zurück. Und gibt ihnen im Ahnen etwas von der eigenen Kraft. Auch die Werke des Schnitzlers gehen den Weg des Vergehens. Doch sein Selbstportrait scheint aus anderem Holz geschnitzt. Wie Marmor überdauert es die Zeit. Sein Meisterwerk wird den Schnitzler unsterblich machen. Heute schon heisst der Weg von der Axalp zum Hinterburgseeli "Schnitzlerweg".

(Arthur Schnitzler war nie da.)

PS

Soll ich daraus einen Film machen? - Es müsste der Versuch sein, eine heutige filmische Sagensprache zu finden. Oder sind "Sage" und "heutig" solche Gegensätze, dass das nur scheitern kann?


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