29 Ein Stäubchen Schubert
Soeben im Zug zurück von Weimar die 4. Sinfonie von Schubert gehört. Der letzte Satz sprüht so vor Lebensenergie und Daseinsfreude, dass mir die Tränen kommen. Das ist das Paradies.
Da kommt mir in den Sinn, dass ich bei Trauerfeiern mich schon gefragt habe, was denn der Verstorbene in seinen eigenen Worten uns sagen würde. Das ist natürlich heikel, denn nur ganz wenige Einzelne sind in ihrem Bewusstsein auf der Höhe der Menschheit von ihrer besten Seite. Aber warum sollte man sich nicht blamieren dürfen – wenn man ja gar nicht mehr ist. Nur müsste man das aufschreiben, solange man noch bei Bewusstsein ist. Also packen wir die sogenannten „letzten Fragen“ am Kragen. Sie sind mir in ihrer katholischen Kostümierung erstmals erschienen. Frömmigkeit war mir immer ganz instinktiv ein Gräuel. Ich empfand sie als unecht, als Vertuschung der eigentlichen Frage(n), und vielleicht auch ihrem Thema gar nicht gewachsen. Dieser Urinstinkt – zusammen mit der unmöglichen Politik der Päpste – hat schliesslich zu meinem Austritt aus der Kirche geführt. Er war überfällig. Und dann erlebe ich Musik in geradezu religiösen Dimensionen – also eine Verschiebung? Vielleicht. Ein Mensch wie Schubert müsste ewig leben. Aber das tut er ja. Ich erlebe seine Lebensfreude (und vieles mehr), auch wenn ich sie selber einkleide – oder vielleicht besser entkleide. Nämlich in ihrer zeitbedingten Ausprägung den überzeitlichen Kern entdecke.
Wenn die Zeit die vierte Dimension ist, dann gibt es vielleicht eine Welt ohne diese Dimension, so wie ein Gemälde drei Dimensionen auf zwei reduziert und die Tiefe „nur“ simuliert. Eine „rein dreidimensionale“ Welt ohne die Zeit wäre dann ja ewig. Aber das wäre keinesfalls bereits die christliche Ewigkeit. Diese verspricht ja das ewige Leben des Einzelnen als individuelle Person. Möchte ich das wirklich? Wären die Grenzen meiner Person weit genug, dass das, was sie umschliessen, einschliessen, für eine Ewigkeit genügen würde? Das kann ich nicht glauben. Irgendwann wäre alles, was mir möglich ist, ausgeschritten, ausgereizt, ausgeschöpft. Und dann? Die ewige Wiederholung? Braucht es mich dafür denn?
Gerade das, was der Religion als vergänglich gilt, nämlich die Materie – das ist nach allem, was wir wissen, viel eher ewig. Es verwandelt sich zwar, aber nichts geht dabei verloren. Den Weltuntergang stellen wir uns ja als Untergang „unserer“ Erde vor – nicht als Untergang des Alls. Nur schon weil wir uns dieses All gar nicht wirklich vorstellen können. Selbst eine Kollision zweier Milchstrassen wäre kein Ende der Materie. Die ja eigentlich Energie ist, aber das ändert nichts daran.
Der Mensch ist wie ein Wassertropfen, der mit seinem Tod ins Meer zurückfindet. Die H2O-Moleküle, aus denen sich der Wassertropfen zusammensetzt, haben keinen Anlass, im Gewoge des Meeres aneinandergeklammert zusammen zu bleiben. So auch der Körper des Menschen. Man muss sich das einmal vorstellen: Die Eisenbahnwagen des Güterzugs, der an mir vorbeidonnert, enthalten Eisen, das einmal zu einem Menschen gehörte, zum Beispiel in seinem Blut kreiste.
Aber der Geist, die Seele des Menschen, sein Ich? Wenn sie nur das Resultat der Funktion seines Gehirns sind, gibt es sie nach der Betriebsschliessung dieses Gehirns nicht mehr. Nach christlicher Religion müsste also die Seele, der Geist, das Ich etwas sein, das kein Gehirn benötigt. Hier stehen wir am Tor zum reinen Glauben. Und hier endet mein Latein. Denn wie sollte der Wassertropfen die Gesetze der Physik verstehen, die ihn zusammenhalten? Allerdings würde ich mich am meisten freuen, wenn ein winziges Stäubchen meiner Seele einst Franz Schubert gehört hätte. Seelenwanderung in homöopathischer Dosis.
(Nur um Gottes Willen keine weitere Sekte bitte!)
(Auch klein Arthur darf einmal etwas philosophieren, wenn er sich nichts darauf einbildet.)