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82 (K)Eine Geschichte


Sie sprechen von einer „guten Geschichte“, einer „runden Geschichte“, einer „starken Geschichte“ – oder sagen: „Das ist keine Geschichte“. Dass Journalisten den Begriff „Geschichte“ so für einen Bericht über die Realität brauchen, das irritiert mich immer. Es scheint mir frivol, ja verräterisch. Natürlich meine ich nicht, die Realität sei einfach eins zu eins abzubilden. Doch die journalistischen „Geschichten“ erheben doch den Anspruch, über eine Realität zu berichten. (Ob sie ihn einzulösen vermögen, ist eine andere Frage.) Der Begriff „Geschichte“ aber nimmt die Perspektive des Publikums ein. Menschen wollen Geschichten hören. Das Kind glaubt der Mutter die Märchen. Darum muss sie diese immer wieder gleich erzählen. Alt und Jung versammeln sich um den orientalischen Geschichtenerzähler. Die immer wieder erzählten Geschichten drehen sich um Grundsituationen des menschlichen Lebens und haben dafür das Rotkäppchen oder Aladin erfunden und eine spannende Handlung zu bieten. Dass diese sich tatsächlich so zugetragen hat, wird nicht behauptet. Die Kraft einer Geschichte stammt aus anderen Quellen. Ihr Bezug zur Realität ist symbolisch, nicht direkt abbildend.

„Erzähl mir doch keine Geschichten!“ – Geschichten sind erfunden, unglaubhaft, sie dienen als Ausflucht davor, was wirklich stimmt. Eine gute Geschichte kann das nicht gewesen sein, sonst hätte die Zuhörerin weiter zugehört, was es mit dieser anderen Frau auf sich hat, statt die Geschichte auf ihre Wahrheit zu prüfen. Denn gute Geschichten funktionieren unabhängig davon, ob sie stimmen oder nicht.

Darum also finde ich es frivol, wie Journalisten den Begriff „Geschichte“ brauchen. Die Wirkung auf die Leserin, den Zuschauer wird als entscheidend gesetzt. Die Geschichte muss „ankommen“. Was sie an Realität zu bieten hat, rückt in den Hintergrund. Selbst dann, wenn der Journalist meint, es verstehe sich ja von selbst, dass es ihm immer um reale Verhältnisse gehe. Was macht denn eine „gute Geschichte“ aus? Sie ist nicht bloss eine Ansammlung von verschiedenartigen Fragmenten. Sie hat einen „roten Faden“, sei es ein Geschehen oder eine Frage, die sich im vorgegebenen Rahmen einigermassen beantworten lässt. Sie ist konkret und bietet eine überschaubare Zahl von Figuren der Handlung. Sie zeigt Einzelheiten, die über sich selbst hinausweisen, also nicht banal sondern beispielhaft sind. Sie weckt am Anfang das Interesse und findet einen „abrundenden“ Schluss, statt einfach irgendwie aufzuhören. Das sind zum Teil inhaltliche, zum Teil formale Anforderungen. Und was folgt daraus? Alles durchaus nachvollziehbar. Damit eine „Information“ auch aufgenommen wird, ist eine Geschichte die beste Form. Doch mein unwillkürliches Unbehagen bleibt. Das Pferd wird am Schwanz aufgezäumt.

(Eine „runde Geschichte“ ist dieser Text nicht. Hätte ich ihn also besser gar nicht geschrieben?)


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