73 Il Traviato
würde „der vom Weg Abgekommene“ bedeuten. Bekannter ist allerdings „La Traviata“. Taschentuch-Fabrikanten müssten sich für eine möglichst häufige Aufführung von Verdis Oper einsetzen. Das ist nicht so salopp gemeint, wie es tönt. Die emotionale Wirkung der Oper ist hochgradig, selbst wenn der Kopf anmerkt, dass alles geschickt darauf angelegt ist. Und sich empört, wenn der Vater, nachdem er den Sohn in Liebesverzweiflung gestürzt hat, ihm das Heimatland seiner Kindheit als Heilmittel schmackhaft machen will, und die Rückkehr in die Familie anpreist, weil er selbst (!) sonst einsam sei. Reinste Emotions-Rhetorik, ja Gefühls-Terror. Verdi aber komponiert das als echte Empfindung – und tut gut daran. In der Musik die Echtheit des Gefühls, im Text die Abwege der Haltung, zu der das Gefühl führt: beides zusammen macht den Gefühls-Terror aus – und auswegslos.
Wenn zunächst alles in Lebenslust und Überschwang beginnt, komponiert Verdi mitreissende Musik, die mir von allem Anfang an die Tränen kommen lässt. Weil sie so intensiv ist. Weil sie mit scheinbarer „Leierkasten“-Begleitung – Wagner (il Traviato) meinte Verdi als Leierkasten-Musik verunglimpfen zu können, das ist ihm bös misslungen – in Melodien, die überhaupt nicht raffiniert sein wollen, höchsten Ausdruck erreicht. Mir scheint gar, dass Verdi im Beginn der Oper bereits das Wissen um ihr Ende mitkomponierte. Dass er ihr Ende schon kennt, versteht sich ja von selbst. Aber in die Lebensfreude die Verzweiflung mit einzukomponieren, das könnte es sein, was den unwiderstehlichen Zauber dieser ergreifenden Töne ausmacht.
Wenn erstmals die Zwei und Drei des Walzertaktes mit Bläserakzenten überdeutlich markiert werden (und gerade nicht mit wienerisch leicht verschobenem Schwung), dann ist das ein Schock. So plump wie der Gefühlsterror des Vaters, so mechanisch wie das Ticken der Familienehre in ihrer Unmenschlichkeit, so unerbittlich wie die unheilbare Krankheit der Violetta. Banal? In den Mitteln vielleicht. In ihrem Sinn vielschichtig. Und höchst ökonomisch: grösste Aussage mit kleinsten Mitteln. Das war allerdings Wagners Sache nicht, weder im Leben noch in der Kunst. „La Traviata“ ist über weite Strecken eine Walzeroper, die nicht in ihren Mitteln, aber nach ihrer Bedeutung Ravels „La valse“ vorwegnimmt, diesen rasenden Taumel in den Untergang. Es ist immer wieder erstaunlich, dass selbst hochdifferenzierte Ohren - wie es jene Wagners ja unzweifelhaft waren - an der Oberfläche hängen bleiben und im Brustton der Überzeugung lächerliche Fehlurteile verkünden.